Keine Autos, kein Strom, kein anderes Bier. Lühesand ist der richtige Ort für alle, die einmal wirklich Ruhe haben wollen

Gibt es einen Ort, der vor der Haustür einer Millionenstadt liegt, der quasi im Minutentakt von Transportflugzeugen überflogen und von Containerfrachtern umschifft wird, und der trotzdem im wahrsten Sinne des Wortes eine Insel der Ruhe ist?

Und wenn es diesen Ort gibt - ist er dann nicht ein eingezäuntes Refugium für Millionäre aus ebenjener Millionenstadt, die sich dort längst Anwesen mit Privatstränden errichtet haben?

Erstens: Ja, es gibt diesen Ort. Und zweitens: Nein, er ist alles andere als ein Spielplatz für Millionäre. Sondern so etwas wie das Gegenteil. Die Rede ist von der Insel Lühesand, wo es im Prinzip nur zwei Spezies von Einwohnern gibt: die Vögel im Naturschutzgebiet, die streng geschützt sind - und die Camper, die oft schon vor Jahrzehnten ihr Lager auf dem Platz von Holger Blohm aufgeschlagen haben. Besonders ist nicht nur die Lage der Insel mitten im Elbstrom, sondern auch die verwilderte, etwas abenteuerliche Anmutung des Eilands.

Anders als auf anderen bundesdeutschen Campingplätzen, stehen die Wohnwagen nicht in Reih und Glied, es gibt auch keine Parzellen. Autos wird man vergeblich suchen, auch Fahrräder gibt es auf der Insel keine - zumal sie auch kaum zu benutzen wären auf den Trampelpfaden, die dem Namen "Lühesand" alle Ehre machen. Selbst auf Strom müssen die Insulaner verzichten, obwohl ein großer, rot-weißer Mast mitten auf der Insel steht. Doch der liefert die Energie für das Festland und stört den Inselfrieden zumindest nicht.

Statt all dieser Dinge gibt es auf der drei Kilometer langen Insel eines - und zwar eine Menge Platz, den die Einwohner auf ihre jeweils eigene Art nutzen. Halbverwitterte und neuere Wohnwagen stehen unter Bäumen, manche haben sich kleine Holzhütten, Terrassen oder Baumhäuser gebaut. Ehemalige Schiffslaternen, Bojen und sonstige nautische Utensilien verzieren Gartentore und Kräuterbeete. Ein wenig so, als hätten es sich Schiffbrüchige hier mit der Zeit gemütlich gemacht.

"Immer, wenn ich frei habe, bin ich hier. Es ist schon komisch, dass der Platz nicht bekannter ist", sagt Stefan Knorr, der gemütlich unter einer krummen Birke sitzt und eine selbstgedrehte Zigarette raucht. Er ist sonnenbebräunt, den Rasierer hat er - vielleicht aus Gründen der Stromversorgung - wohl schon ein paar Tage lang im Schrank gelassen. Die Füße hat er auf seinen Gartentisch gelegt, der in seinem kleinen Reich inmitten der Insel steht.

Seinem Gast, der unangemeldet vorbei gekommen ist, bietet er freundlich Kaffee an. Er bereitet ihn in dem Wohnwagen zu, den er im März mithilfe von Holger Blohm und dessen Fähre auf die Insel gebracht hat. Den Strom fürs Kochen bekommt Stefan Knorr aus einer ehemaligen Schiffsbatterie. Andere Camper haben eigene Solaranlagen, wieder andere sogar kleine Windräder auf ihren Plätzen stehen.

Was genau ihn an der Insel reizt, erklärt Stefan Knorr, nachdem er mit zwei großen Bechern starken, wirklich guten Kaffees zurück gekehrt ist. "Du hörst hier nichts. Nur Vögel, Laub. Man findet zu sich selbst", sagt Stefan Knorr.

Nur einige Male am Tag verkehrt Platzpächter Holger Blohm mit seinem Boot zwischen Lühesand und dem Festland, um Gäste abzuholen oder an Land zu bringen. Abends sind Camper, die kein eigenes Boot haben, völlig abgeschnitten. Und genau das genießt Stefan Knorr. "Man ist hier im positiven Sinne isoliert", sagt er.

Dafür, dass er gelegentlich gern seine Ruhe hat, hat Stefan Knorr einen guten Grund. Denn in Hamburg arbeitet der Mann, der in Buxtehude aufgewachsen ist, als Polizist. In seinem Wohnwagen hat er keinen Fernseher, auch kein Radio. Nur Bücher liest er gelegentlich, oder geht mit seinem Hund Lisa spazieren. Nicht zuletzt bekommt er auch hin und wieder von seiner Tochter Besuch, die in der Nähe auf dem Festland lebt. "Die kann dann hier in Ruhe, unter den Bäumen, Schularbeiten machen."

Stefan Knorr, der vor einigen Jahren erstmals auf der Insel gezeltet hat, entschied sich vor einem Jahr für ein Dasein als Dauercamper. Sein Wohnwagen ist einer von 65, die auf der Insel stehen. Hinzu kommen die Zelte der Kurzcamper, die auf einem eigenen Gelände am südlichen Ufer der Insel Platz finden. Und dann stehen noch 16 kleine Holzhäuser im Westen der Insel - doch die gehören nicht zu Holger Blohms Reich, es sind kleine Wochenendhäuschen, die in der Nachkriegszeit gebaut worden sind.

Richtige Häuser, Hotels gar, dürften auf der Insel gar nicht entstehen. "Das hier ist alles Landschaftsschutzgebiet. Hier darf nichts mehr bebaut werden", sagt Holger Blohm. Das größte Haus weit und breit ist deshalb die Gaststätte des Campingplatzes, deren Inneres, wie der Rest der Insel, dem Motto der Einfachheit huldigt. Ein paar Tische, ein Biertresen, Holzvertäfelungen, als Schmuck das ehemalige Steuerrad eine Schiffes.

Wer will, bekommt ein Bier oder eine Currywurst. Und macht vielleicht ganz unerwartete Bekanntschaften: "Manche Gäste kommen aus Holland, andere aus Leipzig oder Dresden. Einige wandern zum Beispiel mit dem Rucksack die Elbe hoch und machen bei uns Station", sagt Holger Blohm, der den Platz seit 1987 von der Samtgemeinde Lühe pachtet. Er reiht sich damit ein in die Familientradition, denn sein Großvater Heinrich gründete den Platz damals - im Jahr 1933.

Viele Dinge haben sich seitdem verändert, nur die eine Sache nicht: Die Elbe ist immer noch ein gewaltiger Strom, vor dem man sich hin und wieder in acht nehmen muss. Die Campingsaison auf Lühesand endet deshalb im Oktober. Und zwar nicht nur für die Camper, sondern auch für ihre Unterkünfte. "Im Herbst müssen die Wohnmobile von der Insel. Das ist Vorschrift", sagt Holger Blohm. Denn manche Teile der Insel liegen bei einer Sturmflut unter Wasser. Und so transportiert Blohm die rollenden Sommerheime, die er im Frühjahr mit seiner roten Fähre über den Fluss gebracht hat, am Saisonende wieder auf das Festland zurück.

Wie es ist, wenn die Insel wirklich einmal unter Wasser steht, weiß Reinhold Kastner, seit mehr als 30 Jahren Dauercamper. "Bei der Sturmflut im Jahr 1976 sind wir abgesoffen", erklärt der Rentner mit der Kapitänsmütze knapp. Doch die entstandenen Schäden konnte der ehemalige Schiffsbauer aus Neuenfelde eigenhändig beseitigen. Seit dem Unglück haben er und seine Frau Edith einen höher gelegenen Platz für ihr Wohnmobil, zu dem sich mit den Jahren ein selbstgezimmerter Schuppen mit Werkstatt und ein Vorzelt mit Hollywoodschaukel gesellt haben.

All dies sowie den liebevoll eingerichteten Garten, in dem ehemalige Bojen als Blumenkästen, Schiffslaternen als Beleuchtung dienen, kann so schnell nichts mehr gefährden. Und noch einen Vorteil hat der neue Platz: "Man kann hier von jeder Position aus auf die Elbe gucken", sagt Edith Kastner.

Von besonderen Schiffen macht Reinhold Kastner Fotos. Weil er nicht der einzige auf der Insel ist mit dieser Leidenschaft, bietet Holger Blohm einen besonderen Service an. An eine Holzpinnwand hängt er einen jeweils aktuellen Plan, auf dem die Ein- und Auslaufzeiten der Kreuzfahrtschiffe in Hamburg zu lesen sind. Für manche Schiffe wird da "schon mal nachts aufgestanden", wir Blohm sagt.

Auch für die Freunde ganz anderer seltener Exemplare, nämlich der geschützten Vögel, wird hin und wieder etwas geboten. Der Naturschutzbund Nabu bietet Führungen für die Inselbewohner an, die in den Ostteil der Insel führen. Ansonsten ist dieses Gebiet für Normalsterbliche gesperrt - sodass Beutelmeise, Kamingimpel und andere besondere Federtiere ihre Ruhe haben.

Eine andere Art der Freizeitgestaltung schätzen Heike und Volker Pfeiffer, die am nördlichen Ufer der Insel leben. Wie die Kastners können sie bequem auf die Elbe, die Containerschiffe, Segelboote und die Sonnenuntergänge schauen - und zwar direkt von ihrer Terrasse aus. Gelegentlich fahren die beiden Rentner, die seit zwölf Jahren regelmäßig von Rotenburg nach Lühesand kommen, auch die Este hinunter, nach Buxtehude oder über die Schwinge nach Stade. Manchmal legen die Pfeiffers sogar mit ihrem Boot im Hamburger Hafen an - und mischen sich in den frühen Morgenstunden unter die Nachtschwärmer.

Wer nun meint, dass man lange Nächte wohl in einer gewissen Metropole stromaufwärts, aber doch kaum auf Lühesand erleben kann, der irrt sich. Auch auf der Insel wird gefeiert - kaum jemand weiß das besser als André Koch, der Lühesand schon seit Kindertagen kennt. Mittlerweile hat der 21-jährige Stader einen eigenen Wohnwagen. Dort verbringt er fast jedes Wochenende. "Wir sind hier eine große Gruppe, alle zwischen 18 und 21 Jahre alt", sagt André Koch. Die Sommerabende würden häufig mit einem gemeinsamen Grillen beginnen, später werde auf dem Platz in der Inselmitte auch schon mal ein Bier getrunken.

Weil Sport der beste Ausgleich zu langen Nächten ist, spielen Koch und seine Freunde oft Fußball auf dem Insel-Bolzplatz. Sportlicher Höhepunkt des Jahres ist das große Pfingstturnier, zu dem Hobbymannschaften vom Festland anreisen. Einige kommen sogar aus Berlin. Im vergangenen Jahr setzte sich der "FC Bierkiste" gegen die elf Konkurrenz-Mannschaften durch. André Koch und seine "Beachboys" sind fest entschlossen, in diesem Jahr erstmals den Titel zu holen.