Acht Ehrenamtliche vom Weißen Ring helfen Menschen, die in der Region Opfer von Gewalttaten geworden sind

Stade/Buxtehude. Sie hört den Knall, spürt den brennenden Schmerz, riecht das beißende Zündmittel, das ihren Hals so schwer verbrannte, dass sie im Buxtehuder Krankenhaus operiert werden musste. Wenn Britta Wünsche aus ihren Albträumen aufschreckt, ist alles wieder ganz nah: Der Jugendliche, der ihr ohne Vorwarnung mit einer Schreckschusswaffe aus der Nähe gegen den Hals schoss, und die Todesangst.

So sehr die Buxtehuderin versucht, zur Normalität in ihrer Familie überzugehen - es gelingt nicht so, wie die Mutter von sechs Kindern es möchte. "Diesen 18. April werde ich wohl nie vergessen. Ich dachte im ersten Moment, mein Leben ist zu Ende", sagt die Buxtehuderin. Sie grübelt oft und findet keine innere Ruhe.

"So geht es fast allen Opfern von Straftaten, wenn sie zur Ruhe kommen und realisieren, was ihnen geschehen ist", sagt Ute Kehr von der Opferhilfe-Organisation "Weißer Ring". "Zunächst sind sie froh, dass sie die Gewalttat überlebt haben. Gefühle, die verarbeitet werden müssen, kommen Wochen später. Die Opfer leiden unter sogenannten Flashbacks und posttraumatischen Belastungsstörungen mit Schlaflosigkeit, Albträumen, nachlassender Leistungsfähigkeit", sagt die Staderin, die vor ihrem Ruhestand als Ärztin tätig war.

"Das Problem ist, dass man seelische Verletzungen nicht sieht. In der Familie oder im Freundeskreis will man auch nicht dauernd über die Tat reden. Aber viele Opfer leiden ein Leben lang unter dem Geschehenen, und es hilft, wenn sie sich an eine neutrale Person vom Weißen Ring mit ihren Sorgen wenden können."

Seit 1995 leitet Ute Kehr die Stader Außenstelle des Weißen Ringes. "Wir leben noch immer in einer Tätergesellschaft. Deshalb ist es wichtig, dass der Blick auch auf die Opfer gerichtet wird und sie unterstützt werden", sagt Kehr. Während Staat und Justiz den Tätern ihre Aufmerksamkeit schenke, ihnen Therapeuten und Anwälte finanziere, müsse sich das Opfer noch immer selbst um Hilfe, Erstattung von Behandlungskosten oder einen Therapieplatz bemühen, so Kehr.

Eben dort setzt der Weiße Ring mit der Vermittlung von Hilfe an. Im Landkreis Stade engagieren sich acht ehrenamtlichen Mitarbeitern aktiv für den Opferschutz. Rund 60 Fälle betreuen sie jährlich im direkten Kontakt, bei telefonischen Hilfen, die es unter 04141/862 30 gibt, sind es deutlich mehr.

"Je nach seelischer und finanzieller Bedürftigkeit begleiten wir Opfer, wenn sie es möchten", sagt Ute Kehr. "Dabei legen wir unser Augenmerk darauf, dass wir zwar helfen, aber nicht entmündigen." So begleiten Mitarbeiter des Weißen Ringes Opfer auch zu Gerichtsterminen, wo sie ihrem Peiniger begegnen.

"Es ist ganz traurig, wie Verteidiger von Straftätern die Ermittlungsarbeit der Polizei oder die Glaubwürdigkeit der Opfer, oft mit Verbalattacken unter die Gürtellinie, zerpflücken wollen", sagt Kehr.

Bis zum Jahr 2009 durften Opfer vor Gericht lediglich als Zeugen auftreten. Seit der Bundestag im Juli 2009 das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, das sogenannte 2. Opferrechtsreformgesetz, verabschiedet hat, das seit dem 1. Oktober 2009 in Kraft ist, dürfen Opfer auch als Nebenkläger auftreten. Vor allem bei Körperverletzungs-, Sexual- und Tötungsdelikten bietet die Nebenklage, die nicht bei allen Delikten zulässig ist, für Opfer oder Angehörige die Möglichkeit, die Tat besser verarbeiten zu können.

"Wir haben die Erfahrung, dass unsere Soforthilfe oft ein Schritt zur Traumaverarbeitung ist, wenn sich Opfer nach der Tat nicht allein gelassen fühlen", sagt Ute Kehr.

"So brauchen Seniorinnen, die Opfer eines Handtaschenraubes wurden, nicht nur menschliche Zuwendung, sondern auch praktische oder finanzielle Hilfe, um durch die Tat verursachte Notlagen zu überbrücken."

Die Ehrenamtlichen vom Weißen Ring helfen beispielsweise bei der Besorgung neuer Schlüssel samt Schloss oder neuer Papiere, oder bei der Bewältigung bürokratischer Hürden.

"Aber auch intensive seelische Betreuung ist nötig. Senioren geraten oft aus Angst ins Abseits und ihre Lebensqualität leidet erheblich, weil sie sich nach einem Überfall nicht mehr aus dem Haus wagen und verunsichert sind", sagt Kehr.

Hilfreich könne es in manchen Fällen auch sein, den so genannten Täter-Opfer-Ausgleich anzustreben, vorausgesetzt, beide Seiten sind dazu bereit, so Kehr. "Wenn Täter ihre Opfer sehen, und was sie ihnen angetan haben, kann das bei jugendlichen Tätern einen therapeutischen Effekt haben."

Nach dem Opferentschädigungsgesetz von 1976 werden Ansprüche auf Versorgung des Opfers geregelt. Opfer haben darauf auch Anspruch, wenn der Täter noch nicht gefasst ist, aber Anzeige gegen Unbekannt erstattet wurde. Wenn die Täter nicht gefasst werden, zahlt der Steuerzahler. "Im Buxtehuder Fall mit der Schreckschusswaffe dauern unsere Ermittlungen noch an", sagt dazu Rainer Rainer Bohmbach, Sprecher der Polizeidirektion Stade.

Der Weiße Ring macht sich auch bei den Gesetzgebern dafür stark, den Blick aufs Opfer zu richten. "Steter Tropfen höhlt den Stein", sagt Kehr und nennt als weiteren Erfolg, die Vernetzung des Weißen Rings mit anderen Staaten. Wer im Ausland Opfer einer Straftat wird, kann von Deutschland aus Anzeige erstatten. Bundesweit können sich Opfer unter der kostenlosen Rufnummer 0800 080 03 43 an den Weißen Ring wenden, die Nummer des europaweiten Opfertelefons lautet 11 60 06.