Stade will das Altländer Viertel aufwerten. Kürzungen bei der Städtebauförderung erschweren das Vorhaben

Stade. Wenn Stades Bürgermeister Andreas Rieckhof über das Altländer Viertel spricht, dann wird deutlich, dass ihm die Zukunft des Viertels ernste Sorgen bereitet. Die Stadt will das Viertel aufwerten, die Integration der Bürger, die überwiegend einen Migrationshintergrund aufweisen, stärken. Doch es gibt viele Barrieren, die dabei zu überwinden sind. Beim Besuch des Niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann (CDU) in dem Problemviertel wurde am Freitag über Erfolge in der Integrationsarbeit gesprochen, über angelaufene Sanierungsmaßnahmen, aber auch über Dinge, die alles andere als optimal verlaufen - und davon gibt es reichlich.

Vor etwa 15 Jahren wurde die städtische Schule im Altländer Viertel geschlossen, weil ein geordneter Unterricht in dem Viertel damals als unmöglich umsetzbar eingeschätzt wurde. An Stelle der staatlichen Schule wurde die Montessori-Grundschule in dem Viertel etabliert. Sie gilt inzwischen, so Rieckhof, für die Stadt als Vorzeigemodell dafür, wie Schule in einem problembehafteten sozialen Umfeld funktionieren kann.

Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund liegt in der Montessori-Schule bei etwa 85 Prozent, die Mehrzahl der Schüler kommt zudem aus armen Familienverhältnissen. Etwa 65 Prozent aller Bewohner des Altländer Viertels beziehen Arbeitslosengeld II, auch Hartz-IV genannt, fast 90 Prozent der Bewohner der in die Jahre gekommenen Betonburgen, die einst als moderne Siedlungen für den Mittelstand konzipiert waren, haben einen Migrationshintergrund.

Wer im Altländer Viertel wohnt, der hat in Stade seinen Ruf weg. Es ist für viele Stader das Ghetto schlechthin. Die Kriminalitätsrate war hier zeitweise erschreckend hoch, Überwachungskameras sichern inzwischen das Viertel. Dennoch machen die Stader einen großen Bogen um die Siedlung. Die Stadt ist dabei, das Viertel zu sanieren, doch die nun verkündeten Kürzungen des Landes Niedersachsen bei der Städtebauförderung von fünf Millionen Euro sowie die zurückgefahrenen Fördermittel des Bundes könnten das Vorhaben arg ins Stocken geraten lassen. Das bereitet Rieckhof ernste Sorgen.

"Aus eigener Finanzkraft können wir das Viertel nicht sanieren", sagt er. Auch dass die Kirchen sich aus dem Viertel zurückgezogen hätten, bereitet ihm Sorge, denn die Jugend- und Sozialarbeit der Kirche werde vermisst. "Wer in die Lücke springen wird, ist völlig unklar, aber wenn die Stader Moscheen die Jugendarbeit übernehmen würden, hätte ich damit schon ein gewisses Problem", so Rieckhof.

Viele Familien, die in den Bauten der 70er-Jahre wohnen, sind irgendwann in Deutschland angekommen, aber nie in der Gesellschaft. Ein 58-jähriger Türke, der namentlich genannt werden will, sitzt in einem Campingstuhl vor seiner Wohnung im Garten. Es ist früher Nachmittag. Er hat nichts zu tun, außer da zu sitzen und auf den Sonnenuntergang zu warten. Das macht er nun seit vielen Jahren.

"Ich habe 40 Jahre lang hier gearbeitet, auf dem Bau, habe geschleppt, gebuddelt, vieles errichtet", sagt der Mann in gebrochenem Deutsch. "Was kriege ich jetzt? 320 Euro. Neue Arbeit bekomme ich nicht", sagt er. Niemand in der Wirtschaft stelle heute noch einen 58-jährigen ein, meint er.

Sein Sohn, dessen Deutsch so schlecht wie sein Türkisch ist, ist Anfang 20 und hat schon jetzt keine berufliche Perspektive mehr. Eine Ausbildung ist immer wieder an seiner mangelnden Artikulationsfähigkeit, seinen fehlenden Sprachkenntnissen gescheitert. Er sitze im Viertel fest, sagt der junge Mann resignierend. Er wolle aber auch nicht raus aus der Gegend. Hier werde er akzeptiert, hier werde er nicht komisch angeschaut. Da draußen, vor den Toren des Altländer Viertels, ist eine Welt, mit der er nicht klarkommt und die von ihm anscheinend auch nichts wissen wolle.

Anders als viele Bürger in dem Viertel hat die Mehrzahl der Kinder aber noch nicht resigniert, auch wenn in den Familien nicht immer alles optimal verläuft. Für sie beginnt ihre Zukunft erst noch. Und die soll gut sein - das zumindest ist das Ziel der Montessori-Lehrer. Lesen und Schreiben können, das ist der wesentliche Schlüssel für eine erfolgreiche Integration. Das wissen auch Rieckhof und Schünemann. Die Stadt Stade und auch das Land Niedersachsen fördern deshalb gezielt die Integration und setzen dabei oft dort an, wo noch etwas verändert werden kann, nämlich bei den Kindern.

Das Fußball-Projekt "Fußball ohne Abseits", das vom Land Niedersachsen, der Universität Osnabrück, dem Niedersächsischen Fußballverband und dem VfL Stade in Zusammenarbeit mit der Montessori-Schule betrieben wird, soll den Kindern eine Perspektive aufzeigen. "Das Projekt existiert seit etwa zweieinhalb Jahren und ist eine Erfolgsgeschichte", sagt Schünemann. In zwölf Städten und Kommunen und an 29 Vereinen laufe das Projekt, das Mädchen helfen soll, aus den oft komplizierten Gesellschaftsstrukturen ihrer Kultur auszubrechen.

Gerade von Mädchen mit einem arabischen oder kurdischen Kulturhintergrund werde oft erwartet, dass sie etwa mit 16 Jahren oder noch früher heiraten, dass sie sich nicht leicht bekleidet in der Öffentlichkeit zeigen, dass sie sich zuhause um die Familie kümmern.

Eine Partizipation von Frauen an der Zivilgesellschaft wird, so die Erfahrungen der Sozialarbeiter, in den patriarchal geprägten Familien oft nicht gewünscht. Das bekommen auch die Mädchen früh zu spüren. Ein Besuch eines Sportvereins wird verboten, denn die Mädchen könnten, so fürchten manche Eltern, außerhalb des Viertels ein Interesse bei fremden Männern erwecken. Manchmal scheitert der Sportbesuch auch einfach nur daran, dass die Eltern, wenn sie einmal ihre Töchter zum Sport schicken wollen, mit den auszufüllenden Formularen sprachlich überfordert sind oder dass ihnen schlichtweg das nötige Geld fehlt, um den Kurs zu bezahlen.

Aber selbst wenn speziell für Mädchen beispielsweise ein Extra-Schwimmkurs angeboten wird und die Eltern ihren Kindern erlauben, schwimmen zu gehen, ist ein Erfolg damit noch nicht garantiert, wie Judith Heins vom Jugendhaus berichtet. Als sie mit einer Gruppe von Mädchen schwimmen gehen wollte, willigten die Eltern ein, unter der Maßgabe, dass die Kinder mit bedecktem Kopf und Körper schwimmen würden. Für die Jugendarbeiterin war dies kein Problem, wohl aber für das städtische Schwimmbad "Solemio". "Uns wurde gesagt, dass die Mitarbeiter Probleme damit hätten, wenn eine ganze Gruppe von Kindern in langen Kleidern in das Schwimmbad käme", so Heins. Rieckhof reagierte erschrocken bei dieser Nachricht und kündigte an, ein Gespräch mit dem Schwimmbad zu führen.

Von diesem Ausgrenzungsproblem sind die Fußball-Mädchen des Projektes an der Montessori-Schule nicht betroffen. Sie kicken vergnügt in der Sporthalle, nicht weit von ihrem Zuhause entfernt und knüpfen dort unter der Aufsicht der Betreuer neue Kontakte zu anderen Mädchen. Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, sich in soziale Strukturen zu Fügen und anderen zu vertrauen. Nebenbei haben sie auch noch sportlichen Erfolg. Bei der Fußball-Kreismeisterschaft der Grundschulen erreichten die Mädchen auf Anhieb den dritten Platz.

"Wenn der kritische Vater bei einem solchen Turnier mit seiner Tochter mitfiebert und mitjubelt, wenn ein Tor geschossen wird, dann hat die Integration funktioniert. Nicht nur bei dem Kind, sondern auch in der Familie", sagt Schünemann. Denn erst dann sei das klischeebehaftete Rollenbild, das viele Väter haben, endlich durchbrochen und der Weg für eine bessere Zukunft der Kinder in Deutschland geebnet.