Professor Rainer-Maria Weiss, Direktor des Archäologischen Museums Hamburg, berichtet über die Erkenntnisse zum “ältesten Brötchen der Welt“.

Harburg. Rainer-Maria Weiss, Direktor des Archäologischen Museums Hamburg, hat gerade eine Tüte mit frischen Spitzwecken vom Wochenmarkt-Bäcker erstanden. Die Tüte im Gepäck macht er sich ins Museum auf, zeigt dort auf eine Vitrine, die mit einem kleinen, grauen und verschrumpelten Objekt bestückt ist. "Beides sind Spitzwecken - wobei dies das älteste Brötchen der Welt ist", sagt Weiss. Es wurde 1952 in einer Ausgrabungsstätte bei Ovelgönne nahe Buxtehude gefunden und ist mehr als 2500 Jahre alt, etwa 800 bis 500 vor Christus gebacken.

Das 3,5 Zentimeter große Gebäckstück ist dem Bäcker nicht recht gelungen - es ist stark verkohlt. "Deswegen ist es vermutlich auch in die Abfallgrube geraten", sagt Weiss. Allerdings hat dieser Umstand dafür gesorgt, dass das Stück die Jahrtausende überdauert hat, unverbrannt wäre es nach kürzester Zeit zerfallen. Außer dem Brötchenrest befanden sich Holzfragmente und viele Gefäßscherben in der Kuhle. "Einige Forscher glauben, dass wir es hier mit einer Kultstätte der Eisenzeit zu tun haben. Das denke ich aber nicht - hier wurde der Müll des Dorfes entsorgt - ein verkohltes Brötchenfragment als Kultobjekt oder Opfergabe - das halte ich für unwahrscheinlich", sagt Weiss.

Obwohl Brot in der Tat als wichtigstes Nahrungsmittel aller Kulturvölker gilt und deshalb geradezu mythischen Charakter hat. Schon Moses hatte den Israeliten verboten, Brot zum Osterlamm zu reichen. Und die Griechen hatten das Brotbacken vom Gott Pan gelernt, so die Mär. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie es von den Ägyptern übernommen haben. Dort war es üblich, Körner in Mühlen zu mahlen und aus dem Mehl Brot zu backen.

"Brot war Grundnahrungsmittel, Tauschobjekt und Zahlungsmittel", sagt Weiss. Erste Belege dafür gibt es schon aus der Zeit zwischen 3000 und 2800 vor Christus. Dabei handelte es sich jedoch nicht um das bei den Ovelgönnern so beliebte gesäuerte Feingebäck, sondern um eine viel einfachere, geschmacksneutrale Variante. "Das waren eher Mazzen oder dünne Fladenbrote aus Weizen- oder Gerstenmehl. Der Teig wurde auf flachen Backtellern aus Ton ausgerollt und über dem offenen Feuer schnell fertig gebacken."

Erst später waren die Menschen in der Lage, richtige Brotlaibe zu backen. Dazu musste die Hitze nicht nur von unten, sondern von allen Seiten kommen, wofür kuppelförmige Backöfen gebraucht wurden. Die waren in Ägypten etwa einen Meter hoch, kegelförmig und bestanden aus luftgetrockneten Nilschlammziegeln. Das Brot aus dem Feuer zu holen, war für damalige Bäcker nicht ungefährlich, sie mussten sich dazu tief in den Ofen hineinbeugen.

Brot war auch bei den Römern beliebt. So entwickelte sich bereits um 170 vor Christus ein regelrechtes Bäckereigewerbe. Brot war in Rom an jeder Straßenecke zu haben. "Fast wie heutzutage in Harburg, wo es allein rund ums Rathaus zwölf Bäckereiläden gibt", sagt Weiss. Und da Brot ein Topseller war, hatten die Römer den Backvorgang optimiert. Das Brot wurde in einen tonnenförmigen Ofen mittels an einer Stange befestigten feuchten Lappen geschoben: der erste, wenn auch sehr einfache Dampfbackofen. "Noch heute wird in einigen Gemeindebackhäusern in Süddeutschland in einem Ofen dieses Typs deftiges Brot gebacken", sagt der Museumsdirektor.

Doch ägyptische oder römische Weißbrotfladen waren dem Ovelgönner zu fade. Irgendjemand machte die Erfahrung, dass man mit Hilfe von Hefekulturen leckere, fluffige Brote backen kann - und eben auch Spitzwecken.

Was heute in Industriebäckereien eine Sache von Knet- und anderen Backmaschinen ist, musste in der Eisenzeit mühsam von Hand hergestellt werden. Schon der Getreideanbau war harte Arbeit für die Siedler. Die Naturgötter wurden um sonniges, mildes Wetter angefleht, denn eine Missernte war eine Katastrophe für die Menschen. Bevor sie herausfanden, welche Getreidesorten sich zum Anbau eigneten, müssen sie lange herumexperimentiert haben. Vermutlich behielten die Bauern nach jeder Ernte die robustesten Samen zurück für die nächste Aussaat. "Damit trotzte der Mensch der Natur ein Geheimnis ab: das Wachstum von Pflanzen bewusst zu manipulieren. Aus Wildwuchs wurden auf diese Weise nach und nach Kulturpflanzen", so Weiss.

Ging alles gut und hatte nicht die hauseigene Ziegenschar Unheil auf der kleinen Ackerfläche angerichtet, wurde geerntet. Es war meist Aufgabe von Frauen, so fanden Archäologen heraus, buchstäblich die Spreu vom Weizen zu trennen. Auf groben Mahlsteinen wurden die Körner zu Mehl gewalzt - "ein Knochenjob, der stundenlang dauerte", sagt der Museumschef.

Das Mehl war indes lange nicht so fein wie heutzutage. Staubreste und feine Steinpartikel befanden sich darin. "Das hatte zur Folge, dass sich das Gebiss jener Menschen durch den Verzehr von Brot stark abgeschliffen hat. Auch die Zähne von Ötzi, der Mumie des Steinzeitmannes, den man in den Ötztaler Alpen fand, weisen solche Abnutzungen auf."

Ohnehin waren die Menschen jener Zeit nicht so gesund wie ihre Vorfahren, die Sammler und Jäger der Alt- und Mittelsteinzeit, fanden Forscher heraus. Sie wurden auch nicht mehr so alt. Lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Jägers noch bei 60 Jahren, wurden die sesshaften Siedler in Ovelgönne vielleicht gerade mal 40 Jahre alt.

Da nicht mehr so viel Fleisch, Fisch, Beeren und Pilze auf dem Speisezettel standen, sondern eher Getreideprodukte, deren Herstellung zudem extrem aufwendig war, kam es aufgrund der einseitigen Ernährung und Arbeitsbelastung zu Mangelerscheinungen. Diese schwächten das Immunsystem und sorgten außerdem dafür, dass die Männer und Frauen kleiner waren als ihre Ahnen.

Brot behielt jedoch einen hohen Stellenwert im Alltag, ließen sich mit dem Getreideprodukt doch alle Familien der Gemeinschaft satt kriegen. Auch die Spitzweckenform entwickelte sich zum Dauerbrenner. Im Mittelalter wurde sie in den Backstuben hauptsächlich hergestellt. Die besondere Form ist in vielen Bäckeremblemen enthalten, genauso wie die Brezel. Und so kommt es, dass die Menschen in Hamburg noch heute Spitzwecken kaufen können, die so ähnlich aussehen wie die, die in Ovelgönne gefunden wurde.

Wer die vorangegangenen Folgen verpasst hat, findet sie unter www.abendblatt.de/schaetze . Das Abendblatt-Video zur Serie: www.abendblatt.de/ausgrabungsschaetze .

Am kommenden Montag berichtet Museumsdirektor Rainer-Maria Weiss über römische Goldmünzen und darüber, wie römische Kultur die hiesigen Germanen einst beeindruckte.