Wenn die Ehe vor dem Aus steht, wollen sich viele Paare einem Therapeuten anvertrauen. Dort einen Termin zu bekommen ist schwer.

Anna, 63, und Karl Kröger, 62 (Namen geändert), haben in ihrem Leben viel erreicht, auf das sie stolz sein können: Sie haben sich eine gemeinsame Zukunft geschaffen, zwei gesunde Töchter in die Welt gesetzt, ein gemütliches, komfortables Haus mit großem Garten gebaut. Sie haben verlässliche Freunde, sind im Job erfolgreich und finanziell unabhängig. Für Außenstehende waren sie stets das perfekte Paar, das sich gut ergänzt und gegenseitig Halt gegeben hat. In zwei Monaten gehen beide in den Ruhestand. Doch der Start in den neuen Lebensabschnitt ist misslungen.

"Es könnte alles so schön sein", sagt Anna Kröger und streicht sich mit zitternden Fingern ein paar blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Wir haben uns so viel vorgenommen, hatten noch so viele Träume, Pläne und Wünsche. Jetzt ist alles vorbei. Unsere Liebe ist irgendwo zwischen den Wechseljahren und der Rente verloren gegangen."

Nach 36 Ehejahren stehen Anna und Karl Kröger vor den Trümmern ihrer Beziehung. Er stürzte sich schon vor Monaten Hals über Kopf in eine heimliche Affäre mit einer 20 Jahre jüngeren Frau. Die langjährige Partnerin an seiner Seite blieb dabei auf der Strecke - allein und sprachlos. Ihren Kummer fraß sie monatelang in sich hinein, betäubte den seelischen Schmerz mit Rotwein. "Manchmal wäre ich am liebsten gestorben. Ich habe mich so geschämt und konnte mit niemandem über meine Situation sprechen", sagt Anna Kröger.

+++ Mangelware Therapeut +++

Erst als die ohnehin schon zierliche Frau 15 Kilo abgenommen hatte und gerade noch in Kleidergröße 36 passte, suchte sie auf Drängen ihrer Töchter Hilfe bei ihrer Hausärztin, die ihr schließlich eine Liste mit Therapeuten aus der Region in die Hand drückte. "Als es mir mal wieder richtig schlecht ging, habe ich alle Praxen an einem Abend angerufen, weil meine Ärztin meinte, dass die mir in meiner Situation am besten helfen können. Doch es lief immer nur der Anrufbeantworter, der mir mitteilte, dass keine neuen Patienten mehr angenommen werden." Kirsten Böntgen, 49, aus Stade war schließlich die einzige Therapeutin, die auf die verzweifelte Rückrufbitte von Frau Kröger reagierte.

Sie kennt das Problem: Die Nachfrage nach einer Psychotherapie steigt kontinuierlich, doch die Plätze sind rar. Lange Wartezeiten sind an der Tagesordnung. Sie selbst betreut zurzeit 55 Patienten. Ihr Einzugsgebiet reicht von Stade über das Alte Land und Harsefeld bis nach Horneburg in die eine und Zeven in die andere Richtung. Gesprächstherapien im wöchentlichen und 14-täglichen Rhythmus bietet sie an drei Tagen in der Woche an. Anschließend schreibt Kirsten Böntgen oft bis spät in die Nacht Gutachten für die Krankenkassen oder sitzt am Telefon und hilft denjenigen, die gerade mitten in einer akuten Krise stecken.

Um ihren Patienten gerecht zu werden, gab die Therapeutin vor fünf Jahren ihre Doppelzulassung zurück. Bis 2009 arbeitete sie als diplomierte Psychologin und Psychotherapeutin auch mit Kindern zusammen. Mittlerweile beschränkt sich ihre Arbeit auf ältere Jugendliche und Erwachsene. "Das ist eigentlich dramatisch, weil es für die ganz Kleinen noch weniger Therapeuten gibt als im Erwachsenenbereich. Aber das hohe Pensum war zum Schluss für mich nicht mehr zu schaffen, und ich musste mich entscheiden, welcher Weg sich am besten mit meiner eigenen Familie vereinbaren lässt", sagt die dreifache Mutter.

+++ Das schmerzhafte Chaos am Ende einer Ehe +++

Anna Kröger ist mittlerweile seit vier Monaten bei der Staderin in Therapie. Mit ihren Beziehungsproblemen reiht sie sich in eine lange Reihe anderer Patienten ein, die aus ähnlichen Gründen kamen. Böntgen: "Die Aufbauarbeit ist abgeschlossen, viele Wünsche sind bereits in Erfüllung gegangen, und plötzlich stellt sich für viele Menschen die Sinnfrage noch mal neu. War das schon alles? Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Plötzlich sind Eltern nur noch ein Paar. Manchmal verspürt der eine dann den Drang, etwas grundlegend zu verändern und überfordert damit seinen Partner. Der andere wiederum steht vor einer großen Sprachlosigkeit und fühlt sich wie gelähmt."

Auch körperliche und seelische Veränderungen nach einer Schwangerschaft, einem Schicksalsschlag oder dem Beginn der Wechseljahre führten häufig zu Krisen. "Frauen fühlen sich in dieser Phase oftmals nicht mehr attraktiv und begehrenswert", sagt die Verhaltenstherapeutin. Das größte Konfliktpotenzial in einer Beziehung berge allerdings fehlender oder unbefriedigender Sex.

Steht die Beziehung bereits auf der Kippe, seien es meist die Frauen, die eine Therapie in Erwägung ziehen. "Sie haben dann schon eine gewisse Leidenszeit hinter sich und wollen an den Problemen arbeiten. Männer neigen hingegen dazu, Probleme zu verdrängen oder mit Sport und Arbeit zu kompensieren. Den Vorschlag, eine Therapie zu machen, empfinden sie als große Kränkung."

Am Ende einer erfolgreichen Therapie kann übrigens auch eine Trennung stehen. Wie im Fall Kröger. Nach zahlreichen Gesprächen mit ihrer Therapeutin hat Anna Kröger vor einer Woche den Schritt in ein neues Leben gewagt: "Da ist nichts mehr zu reparieren. Das habe ich jetzt verstanden, auch wenn es immer noch sehr wehtut."