Der Stader Bundestagsabgeordneter Serkan Tören fordert: Die Gesellschaft müsse auf Migrantenkinder und deren Eltern zugehen.

Nicht alle muslimischen Einwanderer sind bereit, sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren. Das geht aus der vom Bundesinnenministerium vorgestellten Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland" hervor. Der Stader FDP-Bundestagsabgeordnete Serkan Tören, selbst als Migrantenkind aus der Türkei nach Deutschland gekommen, sieht das 764-Seiten-Werk sehr kritisch, wie er im Abendblatt-Interview erläutert.

Hamburger Abendblatt : Herr Tören, aus der jüngst vom Bundesinnenministerium vorgestellten Integrationsstudie geht hervor, dass knapp ein Viertel der 14- bis 32-jährigen nichtdeutschen Muslime hierzulande starke Abneigungen gegenüber der westlichen Welt haben. Wie beurteilen Sie solche Zahlen, was sagen sie über den Erfolg von Integrationsbemühungen aus?

Serkan Tören : Das ist natürlich eine hohe Zahl. Viele andere Untersuchungen zu diesem Thema kommen zu anderen Ergebnissen, da ist mal von zehn, mal von 15 Prozent die Rede. Und wenn ich mir die Methodik ansehe, die bei dieser neuen Studie angewandt worden ist, kann ich die Zahl einfach nicht so stehen lassen.

Was ist Ihnen aufgefallen?

Tören : Für diese Studie sind teils unpassende Integrationsindikatoren abgefragt worden. Da ist etwa gefragt worden: Würden Sie die deutsche Kultur annehmen? Oder: Haben Sie einen deutschen Freundeskreis? Das sind die falschen Fragestellungen. Es ist zum Beispiel nicht nach Berufen gefragt worden, auch nicht nach Bildung. Auch der Versuch, Religiosität zu messen, ist fehlgeschlagen. Objektive Fragen wären, ob jemand freitags beten geht. Oder ob er Alkohol trinkt. Stattdessen ist wieder subjektiv gefragt worden, ob jemand religiös ist. Viele junge Muslime werden auf diese Frage immer antworten, dass sie sehr religiös sind. Was dann tatsächlich dahinter steht, steht auf einem anderen Blatt. Religiosität ist mit subjektiven Befragungen nicht messbar. Oder nehmen wir die Erhebung über das Medienverhalten: Da ist gefragt worden, wer den türkischen Sender Kanal B kennt. Das ist ein privater Sender, auf dem Serien nach westlichem Standard laufen. Und wer den guckt, soll nicht integriert sein? Und das sind nur einige Beispiele. Es geht durchweg so in der Studie.

Halten Sie das für methodische Fehler, oder steckt da System hinter?

Tören : Ich habe generell Probleme mit Studien, die Religiosität messen. Das wird meistens bei Muslimen gemacht, obwohl eine Identifizierung mit der Religion bei mir und bei vielen jungen Menschen gar nicht im Vordergrund steht. Das ist schon grenzwertig. Und es hilft uns auch nicht in der Frage weiter, wie wir Integration verbessern können. Soll man daraus ableiten, dass junge Menschen die Religion abgeben sollen?

Wie definieren Sie gute Integration?

Tören : Es gibt unterschiedliche Indikatoren. Dazu zählt Sprache, dazu zählt Bildung, dazu zählt der Beruf, dazu zählt auch die Frage, ob ich Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft unterhalte. Einen Einzelnen hervorzuheben ist aber immer falsch. Wenn man diese Indikatoren mal nehmen und auf die Mehrheitsgesellschaft übertragen würde, gäbe es übrigens viele Menschen, die nicht integriert wären. Wir können von Migranten nicht mehr verlangen, als wir es von Deutschen tun. Wesentlich ist, dass sich jeder an Recht und Gesetz hält.

Wenn wir mal annehmen, dass die Integration noch besser sein könnte, insbesondere in großen Städten...

Tören :

...nicht nur in großen Städten. Tatsächlich lebt die Mehrzahl der Migranten in ländlichen Gebieten. Auch dort gibt es integrationspolitische Herausforderungen. Nehmen Sie nur Stade, das Altländer Viertel. Oder Buxtehude.

Wo liegen da die Probleme?

Tören : Zum Beispiel im Städtebau der 70er- und 80er-Jahre. Der hat eine falsche Entwicklung genommen, nicht nur in Stade und Buxtehude. Die Großbauten, oft am Rande der Stadt, waren günstige, aber oft isolierte Wohnbauten. Viele Migranten bleiben hier über Generationen hinweg unter sich.

Was kann und muss die Politik jetzt tun, um diese Strukturen aufzuweichen?

Tören : Es wäre wichtig, diese Segregation durch Wohnraum aufzulösen. Einer der Wege ist, dass diese Stadtteile attraktiver gestaltet werden und ihren oft schlechten Ruf verlieren. Daran müssen alle Beteiligten mitarbeiten. Ich würde mir wünschen, dass auch noch mehr Sportvereine und Schulen die Kinder, aber vor allem auch die Eltern erreichen. Ich höre auch oft, dass Menschen, die aus Hochhaus-Vierteln raus wollen, keine andere Wohnung bekommen, wenn sie ihre Altadresse angeben. Das ist auch ein Problem, das vielleicht in den Köpfen der Menschen gelöst werden muss.

Ließen sich Migranten besser integrieren, wenn sie verstreuter leben würden?

Tören : Ich glaube, dass es helfen würde. Aber das ist kein Automatismus. Viele fühlen sich auch wohl, wo sie leben. Mit Zwangsmaßnahmen kommen wir da nicht weiter. Aber die Wohnquartiere müssen aufgewertet werden.

Stade hat mit dem SPD-Politiker Osman Can das erste Stadtratsmitglied aus dem Altländer Viertel.

Tören : Das ist ein wichtiges Zeichen, wenn jemand, der in einem Viertel lebt, das etwas schwächer aufgestellt ist, selbst Verantwortung übernimmt und etwas in die Politik hineinträgt.

Sie sind ja nun bestens integriert, oder? Was sind denn Ihre Meilensteine auf dem Weg dahin gewesen?

Tören : Bei mir war der Fußballverein ein Meilenstein. Ich bin mit fünf oder sechs zufällig über einen Freund zum Fußballverein gekommen. Das fand ich toll. Ich kannte das Vereinswesen bis dahin nicht, ich war auch in keinem Kindergarten, das war damals nicht so üblich wie heute. Ich habe dann meinen Vater auch mal mitgenommen zu einem Spiel, der fand das auch toll. Und so kam es, dass ich auch die Unterstützung meiner Eltern hatte. Jedes Wochenende zum Spiel gebracht zu werden ist keine Selbstverständlichkeit. Ich habe viel lernen können im Verein: Pünktlichkeit, Disziplin, regelmäßig zum Training kommen, die deutsche Sprache...

...Pünktlichkeit und Disziplin sind auch Indikatoren für Integration?

Tören : (lacht) Nein! Ich will damit nur sagen: Fußball spielen im Verein schweißt zusammen. Jeder hat ein Ziel. Man muss zu einer bestimmten Zeit da sein. Wenn man nicht da ist, lässt man die Mannschaft im Stich. Das ist eine Erfahrung gewesen, die es mir auch in der Grundschule sehr leicht gemacht hat. Bei mir war es wie gesagt ein Zufall. Aber wir dürfen es nicht dem Zufall überlassen. Wir müssen Mittel und Wege finden, um die Kinder, aber auch ihre Eltern zu erreichen.

In Niedersachsen soll ja muslimischer Religionsunterricht Schulfach werden. Trägt das zur Integration bei?

Tören : Ich glaube, ja. Wir bilden integrierte Menschen zu Imamen aus und nicht jene, die von außen kommen, nur für zwei, drei Jahre bleiben, die Gesellschaft nicht kennen und dann etwas sagen, das gar nicht zu dieser Gesellschaft passt. Die Kinder sollen von einem hier ausgebildeten Imam Inhalte vermittelt bekommen. Das ist ein richtiger Weg.