Fluch oder Segen? Welche Schule passt? Baustelle Begabtenförderung: Harburger Grundschule räumt Fehler bei Förderung hochbegabter Schüler ein.

Hamburg/Harburg/Stade. Drei Kinder. Dreimal hochbegabt. Welch ein Segen, mögen viele denken. Doch für Milena Robbers aus Harburg wäre das Leben ohne Hochbegabung in ihrer Familie um ein Vielfaches einfacher. "Hochbegabte Kinder sind nicht gerade etwas, das ich anderen Eltern wünsche", sagt die 43 Jahre alte Sozialpädagogin. Sie musste sich oft gegen Schulleiter und Lehrer durchsetzen und mit Vorurteilen und Irrtümern aufräumen. Zugleich wird sie immer wieder von der Angst beherrscht, nicht das Richtige für ihr Kind zu tun, Fehler zu machen. Hätte sie ihren Sohn vielleicht doch nicht schon mit fünf Jahren einschulen sollen? Ist das Springen in die nächste Klassenstufe richtig oder nicht? "Egal, welche Entscheidung ich treffe, das Kind passt nicht richtig ins Schulsystem", sagt die dreifache Mutter.

Das liegt offenbar auch daran, dass sich einige Schulleiter und Lehrer südlich der Elbe zu wenig damit beschäftigen, begabte Kinder zu fördern. Die Beratungsstelle Besondere Begabung am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung bezeichnet den Raum Süderelbe als weißen Fleck in der Begabtenförderung. Eltern aus dem Landkreis Stade beklagen sich bei der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK), dass die Lehrkräfte nicht genügend über Begabtenförderung aufgeklärt seien. "Obwohl unsere Kinder erwiesenermaßen höchst- und hochbegabt sind, wurden wir von einigen Lehrern nicht ernst genommen", sagt ein zweifacher Vater aus Stade, der nicht namentlich genannt werden möchte.

Auch Eltern in Hamburg sehen ihre hochbegabten Kinder an den staatlichen Schulen nicht richtig aufgehoben und wenden sich hilfesuchend an die DGhK. "Selbst die Schmetterlingsschulen in Hamburg, die eigentlich gezielt Angebote für Hochbegabte machen sollten, halten nicht das, was sie versprechen", sagt Jaana Rasmussen, Vorsitzende der DGhK Hamburg.

Haben die Schulen bei all ihren Bemühungen um lernschwache Schüler die begabten vergessen? Die Grundschule Grumbrechtstraße in Harburg, an der auch die Kinder von Milena Robbers ihre Schullaufbahn begonnen haben, übt sich jedenfalls in Selbstkritik. Sie gesteht Fehler im Umgang mit dem hochbegabten Lennart, dem ersten Sohn der Harburger Familie, ein. "Wir haben nicht geglaubt, dass Lennart hochbegabt ist, sondern nur die Probleme gesehen, die er bereitet hat", sagt der Schulleiter Rainer Kühlke. "Wir waren für das Thema Hochbegabung überhaupt nicht sensibilisiert." Heute ist dem 63-Jährigen bewusst, dass hochbegabte Kinder anders denken und Problemstellungen brauchen, deren Lösung sie sich selbst erarbeiten und im Idealfall in die Realität übertragen müssen. "Die Motivation lässt schnell nach, wenn hochbegabte Kinder Stoff wiederholen müssen. Dann ziehen sich die Kinder zurück oder machen Blödsinn", sagt Kühlke.

Im Fall von Lennart kam aber auch noch erschwerend hinzu, dass zunächst nichts auf eine Hochbegabung hindeutete. Lennart entwickelte sich früh, ja. Er sprach eher als andere Kinder und löcherte seine Mutter besonders häufig mit Fragen. In der Kita glänzte er mit seinem umfangreichen Wissen - sei es über Dinosaurier oder Autos. Mit zwei Jahren kannte er alle Automarken und konnte einen VW Polo vom VW Lupo unterscheiden.

Doch Lennart ist kein typischer Überflieger. Auch Milena Robbers und ihr Mann Albrecht Boehm, 54, haben nur zufällig die Hochbegabung ihres Sohnes erkannt. Als die Probleme in der Schule begannen. Lennart wurde kurz vor seinem sechsten Geburtstag eingeschult und klagte schon ein paar Wochen nach Schuleintritt über Bauchschmerzen. Bald weinte Lennart beim Gedanken an die Schule schon am Frühstückstisch. Als der Junge kaum noch am Unterricht teilnahm, träumte oder störte, vermuteten die Eltern das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bei ihrem Sohn. Aber ein Test bei einer Praxis für Kinderneurologie in Hamburg-Altona ergab: Lennart ist hochbegabt und in der Schule unterfordert.

Trotz der Erkenntnis blieben die Probleme. "Wenn neuer Unterrichtsstoff eingeführt wird, merkt Lennart, dass er alles kann und schaltet ab" erzählt seine Mutter. "Er hat nach wie vor keine richtige Arbeitshaltung." Doch die Vorsitzende der DGhK, Jaana Rasmussen, betont, dass die Mutter froh sein könne ob des Happy Ends.

"Es gibt viele hochbegabte Kinder, die im Schulsystem nicht zurechtkommen und nicht auf dem Gymnasium, sondern auf den Stadtteilschulen oder sogar in Förderschulen landen.

Lennart ist jetzt zwölf und besucht die siebte Klasse des Immanuel-Kant-Gymnasiums in Harburg. Die Schulleiterin Dagmar Siegmann bezeichnet ihn als "normalen, unauffälligen Schüler mit mittlerem Leistungsniveau". Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Eike, bei dem eine Teilhochbegabung festgestellt wurde, besucht dasselbe Gymnasium. Den Fünftklässler kann man ebenso wenig als kleinen Einstein bezeichnen. In vielen Fächern steht er zwischen Note Zwei und Drei. Die Lehrer sind zufrieden mit ihm.

Und dann ist da noch Gesche. Die Siebenjährige geht zur Grundschule Grumbrechtstraße wie zuvor ihre Brüder. Auch bei ihr bestätigte ein Test eine Hochbegabung. Lennart und Eike haben ihre Eltern schon sehr mit ihren frühen Entwicklungsschritten beeindruckt. Doch Gesche konnte das noch toppen. Mit drei Jahren versuchte sie sich schon darin, ihren Weihnachtswunschzettel zu schreiben. Die letzten Bücher, die sie verschlungen hat, sind aus der Reihe "Das magische Baumhaus" - Bücher, die Drittklässler üblicherweise lesen.

Und: "Sie kann das, was sie im Kopf hat, auch umsetzen", sagt die Mutter, die sich inzwischen in der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind engagiert und regelmäßig Treffen für Eltern hochbegabter Kinder aus Harburg organisiert.

In Gesches Fall ging die Schule anders mit dem Thema Hochbegabung um. Obwohl Gesche schon mit fünf Jahren eingeschult wurde, durfte sie eine Klassenstufe überspringen und besucht jetzt die dritte Klasse. Die Lehrerin Katrin Schmidt glaubt, es sei die richtige Entscheidung gewesen. Gesche ist für ihr Alter groß geraten. Deshalb fällt es auch nicht auf, dass sie mit Abstand die Jüngste in der Klasse ist. "Sie hat keine Schwierigkeiten mitzuhalten. Sie muss sich zwar oft anstrengen. Aber es ist ganz gut für sie, zu erfahren, dass ihr nicht alles zufliegt", sagt Schmidt.

Nach den Erfahrungen mit dieser schlauen Familie betont Schulleiter Rainer Kühlke, dass sich seine Einrichtung jetzt nicht mehr dem Thema Hochbegabung verschließt. "Das passiert uns nicht mehr. Daraus haben wir gelernt."