Jan Kwietniewski ist Leiter der Beratungsstelle Besondere Begabung am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg. Er spricht im Hamburger Abendblatt über die Probleme mit der Begabtenförderung in Schulen, über weitverbreitete Irrtümer im Zusammenhang mit Hochbegabung und über den Umgang mit den hochintelligenten Kindern.

Hamburger Abendblatt:

Das Thema Hochbegabung scheint in Mode gekommen zu sein. Wenn Kinder den Unterricht stören, erklären das immer mehr Eltern mit einer Hochbegabung ihres Nachwuchses.

Jan Kwietniewski:

Es gibt tatsächlich eine Tendenz, dass einige Eltern eine Hochbegabung ihrer Kinder als Erklärung für Schwierigkeiten heranziehen. Das hängt mit einem weitverbreiteten Irrtum zusammen.

Mit welchem?

Kwietniewski:

Dass hochbegabte Kinder in der Regel verhaltensauffällig sind. Das ist aber nicht so. Schwierigkeiten kommen bei hochbegabten Kindern nicht häufiger vor als bei nicht hochbegabten Kindern. Etwa 20 Prozent der hochbegabten Kinder in Deutschland sind verhaltensauffällig. Die Quote ist bei Kindern ohne besondere Begabung oder Hochbegabung genauso hoch.

Was ist denn typisch für Hochbegabung?

Kwietniewski:

Das Typische für hochbegabte Kinder ist, dass sie nicht besonders auffallen. Es sind ganz normale Kinder. Sie können nur Dinge schneller erfassen und verarbeiten. Aber dafür brauchen sie auch die Software und nicht nur die Hardware.

Was meinen Sie damit?

Kwietniewski:

Ein Rechner nutzt einem nichts, wenn man keine Software raufgespielt hat. Übertragen auf ein hochbegabtes Kind ist die Software das Lernen. Hochbegabte Kinder müssen auch Zeit investieren, um Rechnen und Schreiben zu lernen.

Viele Eltern haben das Gefühl, dass sich die Schulen mit dem Thema Hochbegabung zu wenig auseinandersetzen.

Kwietniewski:

Es ist nicht immer leicht, das Thema Begabtenförderung in den Schulen zu verankern, insbesondere in bestimmten Schulregionen wie in Hamburgs Osten oder Süderelbe. Das merken wir auch daran, dass die Schulen in diesen Regionen nur ganz wenige Schüler für unsere Begabtenförderungskurse anmelden. Mit dem Projekt "Wissen oder was?", das begabte Kinder an staatlichen Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen Hamburgs fördert, versuchen wir das zu ändern.

Müssten die Schulen nicht die Begabtenförderung selbst übernehmen?

Kwietniewski:

Müssten, ja. Die Begabtenförderung ist eigentlich eine reguläre Aufgabe der Lehrkräfte. Das ist im Schulgesetz so geregelt. Aber es gibt immer noch einige Lehrkräfte, die den Eltern raten, ihr hochbegabtes Kind auf eine Privatschule zu schicken. Jede Lehrkraft muss für das Thema sensibilisiert werden. Die Lehrer müssen schließlich davon ausgehen, dass statistisch gesehen zwei oder drei von 100 Schülern in ihrer Schule eine Hochbegabung haben. Als besonders begabt können sogar fünf bis zehn von 100 Kindern oder Jugendlichen angenommen werden. Das ist also eine hohe relevante Anzahl der Schüler, die in jeder Klasse sitzen.

Wie sollten sich die Lehrer idealerweise verhalten?

Kwietniewski:

Das Wichtigste ist, dass die Lehrkräfte eine besondere Begabung oder eine Hochbegabung in Betracht ziehen. Und alles Weitere hängt von der Qualität der Schule ab. Gibt es Unterrichtsmaterial mit komplexeren Aufgaben für begabte Schüler? Je mehr dahingehend an einer Schule passiert, desto größer die Chance, dass das Kind auf seine Kosten kommt.

Was ist so schlimm daran, wenn ein hochbegabtes Kind Stoff wiederholt und keine Zusatzaufgaben bekommt?

Kwietniewski:

Vor allem wird das Kind vorerst unglücklich sein und keine optimalen Entwicklungschancen bekommen. Wenn ein Schüler ständig abgebremst wird und seine eigene Begabung verstecken muss, kann es auch passieren, dass sich gravierende Lernschwierigkeiten entwickeln. Im allerschlimmsten Fall könnte es dann dazu kommen, dass die gesamte Schullaufbahn in die Hose geht.

Was raten Sie den Eltern, deren Kinder nachweislich hochbegabt sind?

Kwietniewski:

Vor allem rate ich zur Gelassenheit. Die Eltern sollten ihr Kind weiterhin differenziert betrachten. Hochbegabte Kinder sollten in ihrem gewöhnlichen Umfeld bleiben, damit sie es lernen, sich auf Langsamere einzustellen. Denn mit solchen werden sie es ihr Leben lang zu tun haben.