Wolfgang Kiehl nahm lange harte Drogen, saß im Gefängnis. Heute arbeitet er präventiv. Er spricht über seine Karriere und moderne Therapien.

Er war drogenabhängig, er wurde zum Dieb, um das Geld für seine Sucht zusammenzubekommen, er saß mehrere Jahre im Gefängnis. Dann der Wendepunkt: Abitur, Studium, eine Karriere als Suchtberater. Heute versucht Wolfgang Kiehl, 48, Jugendliche zu schützen. Morgen zum Beispiel hält er einen Präventionsvortrag in der Johann-Peter-Eckermann-Realschule in Winsen. Das Abendblatt hat zuvor mit ihm gesprochen.

Hamburger Abendblatt: Sie sind der einzige mobile Suchtberater in Deutschland. Was genau bedeutet das?

Wolfgang Kiehl: Das bedeutet, dass ich zu den Brennpunkten hinfahre, um dort meine Präventionsarbeit zu machen. Man kann mich sozusagen buchen. Ich besuche etwa 90 verschiedene Schulen pro Jahr.

Wo in Deutschland sind Sie anzutreffen mit Ihrem Suchtmobil?

Kiehl: In München bin ich zum Beispiel regelmäßig. Dort buchen mich viele Gymnasien. Aber auch auf Rügen, in Berlin oder in Köln bin ich schon gewesen. Ich fahre überall hin, wo ich gebraucht werde.

Sind es nur Schulen, die Sie besuchen?

Kiehl: Es sind hauptsächlich Schulen. Mittlerweile gehören aber auch verschiedene Betriebe, Universitäten und die Bundeswehr zu meinen Auftraggebern. Insgesamt komme ich auf etwa 100 Veranstaltungen im Jahr.

Wer finanziert das?

Kiehl: Ich werde von der Wirtschaft finanziert. Das war eine bewusste Entscheidung von mir, denn ich wollte unabhängig von den Kommunen sein. Ein wichtiger Teil meines Jobs ist daher auch die Akquise. Mit der Techniker Krankenkasse arbeite ich zum Beispiel bereits seit fünf Jahren zusammen. Sie ermöglichen mir, mindestens 60 Veranstaltungen im Jahr kostenlos anzubieten. Andere Sponsoren unterstützen mich unter anderem auch mit Sachleistungen. Dann hatte ich noch Kooperationen mit der Fußballschule von Hannover 96 und mit dem Landessportbund Niedersachsen, bei denen ich jeweils circa 30 Präventionsvorträge gehalten habe.

Wie viele Jungendliche erreichen Sie auf diese Weise?

Kiehl: Ich erreiche ungefähr 12 000 Jugendliche im Jahr mit meinen Vorträgen. Lehrer sind natürlich auch immer dabei. Sie profitieren ebenfalls davon.

Sie waren selbst jahrelang d rogenabhängig. Inwiefern hilft Ihnen das bei Ihrer Präventionsarbeit?

Kiehl: Das ist die absolute Grundlage für meine Arbeit. Ich habe einen anderen Zugang zu dem Thema, weil ich Dinge aus der Szene erzählen kann, die man sonst in der Präventionsarbeit nicht erfährt. In meinen Vorträgen gehe ich knallhart mit dem Thema Drogen um.

Wie vermitteln Sie das Thema den Jugendlichen?

Kiehl: Ich beginne meine Vorträge immer mit der Devise: Es gibt keine harten oder weichen Drogen. Es gibt nur Drogen oder keine Drogen. Und die häufigste Einstiegsdroge ist Alkohol. Ein Leben ohne Alkohol ist in Deutschland unvorstellbar. Es ist auch ein lukratives Geschäft, mit dem Milliarden verdient werden. Darum wird das Thema verharmlost. Aber ich kenne genügend Achtjährige, die sich schon ins Koma gesoffen haben.

Sie sprechen auch sehr offen und unverblümt über Ihre eigene Drogenkarriere. Wie reagieren die Jugendlichen darauf?

Kiehl: Mit Betroffenheit und auch Bewunderung. Ich glaube, es ist ein Unterschied, ob sie so etwas von einem Arzt oder der Polizei zu hören bekommen oder von jemandem, der das alles einmal erlebt hat. Ich erzähle ihnen auch, wie die verschiedensten Drogen konsumiert werden. Denn nur wer weiß, wie das Zeug genommen wird, hat eine Chance, sich davor zu schützen.

Was stellt eine Droge wie Heroin mit einem an?

Kiehl: Heroin ist ein Gefühlskiller. Es gibt im Moment des Rausches keine Probleme oder negativen Empfindungen mehr. Und das empfinden viele als positiv. Nach etwa einem Monat Konsum kommt dann die körperliche Abhängigkeit dazu.

Mit 16 Jahren haben Sie angefangen, Alkohol zu trinken. Wie ist es dazu gekommen?

Kiehl: Mein Vater hat mich mit 15 Jahren von der Schule genommen, damit ich eine Handwerksausbildung mache. Ich habe dann mit einer Klempnerlehre begonnen in einem Betrieb, in dem alle ständig gesoffen haben. Irgendwann habe ich einfach mitgemacht, weil ich dazugehören wollte. Mit 16 Jahren bin ich schließlich von zu Hause ausgezogen und auf Leute gestoßen, die gekifft haben. Also kiffte ich auch. Es folgte der Konsum von psychedelischen Drogen, Amphetaminen, Kokain und Heroin.

Sie haben acht Jahre lang Heroin genommen. Wie haben Sie sich in dieser Zeit gefühlt?

Kiehl: Ich war ständig im Stress, weil ich jeden Tag irgendwie meine 300 Mark zusammenbekommen musste für das Heroin.

Haben Sie Straftaten begangen, um an Drogen zu kommen?

Kiehl: Ja, ich habe unzählige Diebstähle begangen. Dafür saß ich insgesamt drei Jahre im Gefängnis.

Warum wollten Sie schließlich clean werden?

Kiehl: Ich war müde vom Leben im Gefängnis. Mit 34 Jahren dachte ich dann: Entweder bringst du dich jetzt um oder du kommst hier raus, machst weiter wie bisher und landest wieder im Knast. Oder du machst eine Langzeittherapie und hörst auf. Und genau das habe ich gemacht.

Das klingt ja sehr einfach.

Kiehl: Das war es nicht. Die Therapie hat insgesamt vier Jahre gedauert. Nach zwei Jahren hatte ich einen Rückfall, wurde wieder kriminell, kam wieder ins Gefängnis. Beim zweiten Mal habe ich es dann geschafft.

Wie haben Sie die ersten Tage Ihres Entzugs erlebt?

Kiehl: Heutzutage wird man bei der Entgiftung medikamentös begleitet. Auf diese Weise hält man die Schmerzen auch besser aus, die während des Entzugs auftreten. Zu meiner Zeit gab es das noch nicht, und ich musste einen kalten Entzug machen. Nach drei Stunden fängt der Kopf an wehzutun. Dann die Muskeln und Knochen. Man bekommt Magenkrämpfe und irgendwann kann man nur noch liegen. Schlafen ist aber kaum möglich, man kommt nicht zur Ruhe. Das dauert bis zu neun Tage und ist sehr anstrengend. Wer zusätzlich Ersatzstoffe wie Methadon entzieht, braucht sogar bis zu einem Monat. Das schaffen dann die Wenigsten.

Warum schaffen es Ihrer Meinung nach so wenige Abhängige, aufzuhören?

Kiehl: Es liegt an unzulänglichen Therapiekonzepten. Es gibt immer mehr Fachkliniken und immer weniger kleinere Einrichtungen. Die Kliniken können mit bis zu 100 drogenabhängigen Patienten nicht das Gleiche leisten wie kleinere Therapiegruppen von 15 bis 30 Personen. Die Kontrollen in den Kliniken sind nicht so streng, die Atmosphäre ist viel anonymer. Auch die Betreuungsdauer ist dort viel kürzer. Die Leute werden zu schnell sich selbst überlassen. In meiner Therapie konnte ich bis zu fünf Jahre zur Nachsorge gehen. Das ist heutzutage selten.

Was haben Sie nach der Therapie gemacht?

Kiehl: Ich habe noch während der Therapie mein Abitur nachgeholt. Später habe ich dann Sozialpädagogik studiert. Zu dieser Zeit hatte ich bereits die Idee, etwas zu machen, das sonst keiner so macht. Also wurde ich mobiler Suchtberater.

Was meinen Sie, wo Sie heute stünden, wenn Sie nie aufgehört hätten, Drogen zu nehmen?

Kiehl: Dann wäre ich wahrscheinlich schon tot.

Was können Jugendliche tun, die merken, dass sie ein Drogenproblem haben?

Kiehl: Sie sollten sich unbedingt jemandem anvertrauen. Das müssen nicht unbedingt die Eltern sein. Es kann die Tante, der Opa oder ein guter Freund sein. Darüber zu sprechen ist aber sehr wichtig. Und der Gang in eine Drogenberatungsstelle sollte folgen.

Wie kann die Familie Betroffene unterstützen?

Kiehl: Die Familie muss im offenen Dialog mit dem Abhängigen stehen. Auf keinen Fall darf sie ihn abwerten, verurteilen oder ihm Vorhaltungen machen. Stattdessen sollte sie ihm mit Verständnis begegnen. Aber nur, solange Offenheit herrscht. Sobald ein Abhängiger anfängt zu lügen, ist Verständnis fehl am Platz. Man muss sich dann im Zweifel klar von ihm abgrenzen.