Horneburger Gruppe “Gegen das Vergessen, für Toleranz“ organisiert Gedenkveranstaltung für Opfer des Faschismus. Ausstellung im Rathaus.

Horneburg. "Wir sind sicher nicht persönlich verantwortlich für das, was damals geschah, aber wir alle gemeinsam sind dafür verantwortlich, dass so etwas nie wieder geschieht." Diese Worte des ehemaligen Horneburger Pastors Uwe Junge waren im Jahr 1997 Motivation für 15 Horneburger Frauen und Männer, eine Gruppe "Gegen das Vergessen, für Toleranz" zu gründen. Seither ist es das Hauptanliegen der Gruppe, in jedem Jahr eine thematisierte Veranstaltung gegen das Vergessen, jeweils zum Holocaust-Gedenktag, am 27. Januar, in Horneburg zu organisieren.

In diesem Jahr haben Reinhild Marzahn und ihre Mitstreiter in der Gruppe diese Veranstaltung einem Mann gewidmet, der wohl nur mit großem Glück oder sogar nur per Zufall die Euthanasie im Dritten Reich überlebte. Das Trauma seines Leidensweges brachte Erich Paulicke bis ins hohe Alter mit Malerei zum Ausdruck. Werke von Erich Paulicke, Jahrgang 1926, werden bis zum 7. Februar im Horneburger Rathaus, Lange Straße 46, ausgestellt.

Mehr als 200.000 Menschen mit Behinderungen fielen bis 1945 der systematischen Tötung durch die Nazis zum Opfer, weist ein Forschungsprojekt des Bundesarchivs aus. Nach dem 1939 von Hitler unterzeichneten "Euthanasie-Erlass" begann im gleichen Jahr der Massenmord an psychisch kranken, sozial auffälligen oder geistig behinderten Menschen.

Das Leiden des für "lernbehindert" erklärten Erich Paulicke begann ein halbes Jahr vor seinem achten Geburtstag. Der kleine Junge wurde von seinem Vater nach Langenhagen bei Hannover in eine Anstalt für geistig behinderte Menschen abgeschoben, weil der Vater mit ihm nicht klar kam und ihn ständig prügelte. Im Stadtarchiv von Paulickes Geburtsort Osterode liest sich der schicksalhafte Eintrag im Melderegister nüchtern und war doch der Beginn eines unbeschreiblichen Leidensweg durch die Zeit der Nazi-Diktatur bis zur Befreiung 1945: "Am 16. Januar 1934 nach Langenhagen abgemeldet."

Von der Heil- und Pflegeanstalt Langenhagen führte der Weg des Kindes 1938 in die Rotenburger Anstalten, danach nach Günzburg, Kaufbeuren und Irsee. Dort wurden während der Nazi-Diktatur bis 1945 etwa 2000 Menschen mit Behinderungen ermordet. Sie verhungerten, wurden vergiftet, vernachlässigt. Sie starben nach Überdosen von Medikamenten, medizinischen Experimenten oder durch Unterkühlung. Paulicke kam nach Irsee und wurde mit so genannter E-Kost gequält. Die Entzugskost war eine Suppe, die lediglich aus Wasser bestand und mit überdosierten Medikamenten versetzt, den Tod beschleunigte. Als 18-Jähriger wog er nur noch 36,5 Kilo.

Vermutlich zu Forschungszwecken war Paulicke mit Knochen-Tuberkulose infiziert worden, was ihn mit einer schweren Gehbehinderung für den Rest seines Lebens zeichnete. Die Verantwortlichen in Irsee schickten ein Telegramm an Erichs Vater, um ihn vom bevorstehenden Ableben seines Sohnes zu unterrichten. Der Vater stimmte telegrafisch einer Einäscherung zu. Im März 1945 wurde Erich Paulicke seinen Angehörigen gegenüber für tot erklärt. Nach der Versendung solcher Telegramme war das Leben eines Patienten in Irsee so gut wie ausgelöscht.

Dennoch war Paulicke einer der wenigen Überlebenden, als die Amerikaner im Juli 1945 das Töten in Irsee endlich beenden. Der damals 19-Jährige war auch der letzte Überlebende von rund 800 während der Nazizeit deportierten Bewohner der Rotenburger Anstalten.

Zurück in den Rotenburger Anstalten lebte er dort ab 1947 sechzig Jahre lang bis 2007, ohne dass er von seinen Erlebnissen berichtete oder sich zunächst jemand dafür interessierte. Erst durch seine künstlerischen Darstellungen und seine Erklärungen dazu begann Paulicke, seine Geschichte aufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang wurden die Organisatoren der dortigen "Bildnerischen Werkstatt" auf seine ungewöhnlichen Werke aufmerksam.

Paulicke malte wuchtige, verstörende Bilder, oft in düsteren Farben. Er schuf bedrückende plastische Arbeiten, Reliefs, die wie viele Bildmotive wie Massengräber wirken, und immer wieder Statuen und Bilder des Teufels.

Den Teufel habe er in Irsee kennen gelernt, sagte Paulicke den Dokumentarfilmern Doris Adams-Wollschlaeger und Rüdiger Wollschlaeger, die seinen Lebenslauf und sein Schaffen mit ihm aufarbeiteten.

"Von Paulickes Lebensgeschichte wäre wohl nicht viel bekannt, wenn sich nicht die Menschen, die ihn als alten Mann betreuten, für ihn und das, was ihm widerfahren ist, interessiert hätten", sagt Reinhild Marzahn, die Organisatorin der Paulicke-Ausstellung in Horneburg.

Paulickes Leben und der Umgang mit behinderten Menschen im dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte wurde von der Kunsttherapeutin Doris Adams-Wollschlaeger und dem Historiker Rüdiger Wollschlaeger in einem Film als Zeitzeugnis dokumentiert. Der Film ist unter http://video.rotenburgerwerke.de/erich_paulicke.html im Internet zusehen.

In Horneburg wird alljährlich am 27. Januar eine Veranstaltung von der Initiative "Gegen das Vergessen, für Toleranz" mit unterschiedlichen Schwerpunkten ausgerichtet. Anschließend gehen die Teilnehmer durch den Vordamm zum 1997 errichteten Gedenkstein zur Kranzniederlegung.

In diesem Jahr findet am Freitag, 27. Januar, um 19 Uhr, in der Liebfrauenkirche Horneburg, Bleiche 1, die Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Nach der Begrüßung durch den Fleckenbürgermeister Hans-Jürgen Detje, eröffnet Pastor Horst Busch die Gedenkfeier.

Maria Kiss, die ehemalige Leiterin der Rotenburger Werke wird einen Vortrag unter dem Titel "Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel?" halten. Die Tanzgruppe der Lebenshilfe Buxtehude wirkt bei der Programmgestaltung mit.