Ohne Liebe einen Mann zu heiraten und das Leben gemeinsam zu verbringen - das kann sich die große Mehrheit der Frauen in Deutschland nicht vorstellen. Doch Hunderte Mädchen und Frauen werden jährlich zur Eheschließung gezwungen.

Stade. Ihre Eltern haben einen Mann für sie ausgesucht. Und zwar nicht nur in Berlin- Kreuzberg oder im fernen Iran, sondern auch im Landkreis Stade.

Zwangsverheiratungen gibt es auch vor den eigenen Haustüren, sagt Gaby Siedentopf, Migrations- und Integrationsbeauftragte bei der Stader Arbeiterwohlfahrt (Awo). Seit Anfang dieses Jahres hätten sich 18 Mädchen und Frauen bei ihr gemeldet, denen eine Zwangsehe drohe oder die bereits gegen ihren Willen heiraten musste. Mit neun dieser Frauen hatte sie ein weiteres Beratungsgespräch. "Andere Zahlen über die Situation in der Region gibt es leider nicht, obwohl es sonst zu jeglichen Themen Statistiken gibt", kritisiert Siedentopf. Lediglich die Beratungsstellen könnten ihre Fälle melden, darunter das niedersächsische Krisentelefon, bei dem sich seit Dezember 2006 mehr als 160 Betroffene gemeldet haben. Die Dunkelziffer sei allerdings um ein Vielfaches höher.

Die Mädchen und Frauen, die bei der Stader Awo Hilfe suchen, seien zwischen 14 und 21 Jahre alt. Die meisten von ihnen kommen wie ihre Familien ursprünglich aus dem Mittleren Osten, der Türkei, dem Kosovo und aus Afghanistan. "Es gibt aber auch Zwangsverheiratungen in Familien aus afrikanischen und ostasiatischen Ländern wie Japan und Korea." In diesen Ländern spiele die Tradition eine wichtige Rolle, mit der die Zwangsverheiratung begründet wird. Das sei nicht mit einer Religion gleichzusetzen, auch wenn viele Betroffene Muslime seien.

Die Frauen würden sich aber auch selbst unter Druck setzen. Trotz eines westlichen Lebensstils sei für sie die Tradition sehr bedeutend, so Anne Behrends, Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Stade: "Ihnen ist bewusst, dass sie die Ehre der Familie verletzten, wenn sie sich gegen die Zwangsverheiratung wehren." Die Mädchen und Frauen seien in einem schweren Konflikt. Entweder würden sie einen fremden Mann, der häufig sehr viel älter sei, heiraten und Gewalt und Vergewaltigungen ertragen müssen. Oder sie müssten mit der Familie brechen. In der Regel bedeutet das: Dann müssten sie ihr soziales Umfeld verlassen, weit wegziehen und anonym leben. Anne Behrends: "Das ist eine hohe Bürde, ein extremer psychischer Druck."

Zudem hätten die Betroffenen Angst vor finanziellen Schwierigkeiten. "Sie wissen oftmals nicht, dass sie nach der Flucht ein Recht auf Sozialleistungen haben", sagt Behrends. Der Aufenthaltsstatus belaste die Frauen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, weil sie Angst vor einer Ausweisung hätten.

Obwohl die Problematik der erzwungenen Ehen in den vergangenen Jahren mehr in die Öffentlichkeit gekommen sei, müssten sich die beteiligten Institutionen besser vernetzen, kritisiert Siedentopf. Vor allem bei Zeitdruck sei dies wichtig. "In den Sommerferien werden sie in ihren Heimatländern verheiratet und kommen dann beispielsweise nicht mehr in die Schulen zurück."

Die Sensibilisierung müsse ebenfalls optimiert werden, damit etwa Polizeibeamte, Lehrer und Behördenmitarbeiter die Fälle erkennen würden. Hauruck-Methoden seien dann Fehl am Platz. Den Betroffenen müsse Anonymität garantiert werden. Die Eltern mit der Problematik zu konfrontieren, sei der falsche Weg. Professionelle Hilfe sei gefragt.

Damit die Vernetzung der einzelnen Institutionen verbessert wird, haben Siedentopf und Behrends den Fachtag "Zwangsverheiratung - Hinsehen, Handeln, Helfen" organisiert. Heute kommen im Stader Kreishaus unter anderem Polizei, Jugendämter und Beratungsstellen zusammen, um sich stärker zu vernetzen. Wer Hilfe sucht, kann sich unter anderem an das kostenfreie Krisentelefon unter der Telefonnummer 0800/066 78 88 wenden.