Peter Wellbrock wurde zu DDR-Zeiten von Kollegen und engen Freunden ausspioniert. 1988 gelang ihm die Ausreise in den Westen.

Stade. Wut oder Hass fühlt Peter Wellbrock nicht, wenn er seine Stasi-Akten liest. Mehr als 1000 Seiten wurden über den "Vagabunden", so sein Operationsname, geschrieben. 16 informelle Mitarbeiter (IM) bespitzelten den DDR-Journalisten und informierten den Staatssicherheitsdienst (Stasi). Dem Stader sind die tatsächlichen Namen von "Eisvogel", "Diana Sommer" und anderen Mittlerweile bekannt. Im Jahr 1995 durfte er die Akten einsehen. Er kopierte sie alle. Einige der IM gehörten zu seinen engsten Vertrauten.

Statt Hass und Wut fühlt der heute 75-Jährige Enttäuschung und Traurigkeit. "Nur einer von 16 hat sich bei mir entschuldigt", sagt Wellbrock. Er habe "Günter Bittow" vergeben. Dem langjährigen Freund hat er damals vertraut, einen Verdacht niemals gehegt. "Bei einigen habe ich vermutet, dass sie für die Stasi arbeiten. Aber bei vielen eben auch nicht." Er habe angenommen, dass die Menschen, die ihn damals bespitzelten, aufrichtige Menschen mit einer inneren Opposition gegen das DDR-System gewesen seien. "Aber das war alles vorgespielt." Sogar Zeichnungen seiner Wohnung sind in den Unterlagen. "Das ist perfide."

Bereits als Journalistik-Student geriet Wellbrock ins Visier der Stasi. In den Semesterferien 1958 diente er bei der Volksarmee und sagte im politischen Unterricht einen Satz, der ihn sein Leben lang begleitete: "Ich lebe lieber im Kapitalismus, als im Sozialismus zu sterben." Das war der Anfang seiner Bespitzelung. Fortan habe die Stasi nach Vorwänden gesucht, um Wellbrock zu kriminalisieren und damit inhaftieren zu können.

Nach dem Studium volontierte Wellbrock im brandenburgischen Neustrelitz und arbeitete fortan bei der CDU-Zeitung " Der Demokrat", ohne der Partei anzugehören. Doch nach einem Jahr zwang ihn die Chefredaktion, der CDU beizutreten. "Ich wollte meinen Job behalten. Das war das kleinere Übel. Schlimmer wäre die SED gewesen." Außerdem schätzte der Redakteur die kleinen Freiheiten bei der Zeitung. Er durfte etwa über die Kirche berichten. Gleichzeitig musste jedes Wort überdacht werden, damit es nicht negativ bei der Stasi auffiel. Eine Wurstbude durfte etwa nicht abgebildet werden, weil das die "Fresslust" fördern würde und Schweinefleisch knapp war. Die Verbote betrafen auch den politischen Bereich, Kritik an der SED war nicht erlaubt. "Man saß immer auf dem Schleudersitz."

Erst recht nicht erlaubt war Sympathie mit dem Westen. Am 13. September 1969 betraten US-amerikanische Raumfahrer erstmals den Mond. Am Tag darauf tagte der Vorstand des Deutschen Journalistenverbandes, in dem Wellbrock Mitglied war, gemeinsam mit Gästen aus der Sowjetunion. Die Mondlandung wurde in einem Vortrag beiläufig erwähnt. Wellbrock begann einen folgenschweren Fehler: Er applaudierte und bekundete seine Begeisterung über die Leistung der Amerikaner. Er wurde zum Bezirksvorstand bestellt. Die Folge: Wellbrock musste mehrere Wochen in die CDU-Parteischule im thüringischen Burgscheidungen zur "politischen Runderneuerung". Der Chefredakteur verhinderte schlimmere Sanktionen.

Nachdem seine Mutter 1977 nach Buxtehude zog - als Rentnerin war die Ausreise erlaubt - stellte Wellbrock insgesamt sechs Ausreiseanträge. Alle wurden abgelehnt. Bis 1986. Dann durfte er, für ein Familienfest, in den Westen reisen. In Wiesbaden lernte er seine zweite Frau Carmen kennen. Bis zur Eheschließung am 9. Juli 1988 folgten unzählige Briefe, die von der Stasi gelesen wurden. "Ich habe Kopien der Briefe in meinen Akten gesehen."

Ende Juli 1988 war es so weit: Wellbrock durfte die DDR verlassen. "Der Abschied viel mir schwer. Schließlich wusste ich nicht, ob ich jemals zurück gedurft hätte." Hätte der 75-Jährige damals geahnt, wie nah bereits das Ende der DDR war, wäre er dort geblieben: "Ich hätte mich an den Demonstrationen und am Forum beteiligt."

Vom Fall der Mauer am 9. November 1989 erfuhr er in einer Sporthalle in Mühlheim, wo er vor dem Umzug nach Stade lebte. "Das war ein Donnerstag. Ich habe wie immer Tischtennis in meinem Verein gespielt. Plötzlich kam ein Freund hereingestürmt und hat vom Fall der Mauer berichtet."

Im Fernsehen verfolgte Wellbrock die Ereignisse und dachte: "Wie gerne wäre ich jetzt dabei." Ins Auto stieg der Journalist, der nun bei der "Frankfurter Allgemeinen" arbeitete, dennoch nicht. Erst im Januar 1990 fuhr er erstmals wieder in die DDR. Damals sei immer noch demonstriert worden. Diesmal machte er mit.

Trotz allem war Wellbrock damals sehr heimatverbunden - und ist es auch heute noch. "Ich hatte gar nicht so große Sehnsucht nach dem Westen. Aber ich habe mir Reise- und Meinungsfreiheit gewünscht." Die DDR vermisst er nicht - aber die Gleichheit der Bürger: "Jeder hatte nicht viel, aber sein Auskommen. Das Land war arm und die Bescheidenheit erzwungen, aber die Klassenlosigkeit war positiv", sagt der überzeugte Christ.

Auf der anderen Seite kann dem sozialistischen Staat seinen Erziehungs- und Sicherheitsapparat nicht verzeihen. Die Erlebnisse seien Traumata: "Das beschäftigt mich. Ich träume von der Vergangenheit und den Stasiakten."

Vielleicht wünscht er sich auch deshalb eine gründlichere Aufarbeitung der DDR-Historie. "Es hätte besser sortiert werden müssen. Denn ehemalige Stasi-Spitzel bekleiden noch heute öffentliche Ämter im Staatsdienst." Die Stasi-Größen hätten schweren Schaden verursacht, etwa wenn Menschen wegen Nichtigkeiten jahrelang inhaftiert gewesen seien. "Das ist zu wenig aufgearbeitet worden." Zwar hätten die "kleinen" IM, so Wellbrock, heute ein Recht auf ein normales Leben. In einer Demokratie gehöre das dazu. Nur eine Entschuldigung hätte er sich von "seinen" 16 IM gewünscht. Denn er hat ihnen verziehen, auch wenn er ihre Taten nicht vergessen kann.