Klimawandel, miese Qualität, schlechte Arbeit - viele Reetdächer altern vorzeitig. Die Folgen sind katastrophal.

Stade. Mit Schimmel hatte Anne-Katrin Harms-Friedrichsen nicht gerechnet, als sie 2005 eine Dachhälfte ihres Jorker Wohnhauses neu decken ließ. Das alte ungarische Reet hatte nach 21 Jahren seine besten Tage hinter sich. 30 000 Euro zahlte die 52-jährige Finanzberaterin für die Sanierung und erfreute sich eineinhalb Jahre an ihrem schönen Dach - bis sich ein Freund, ein Reet-Experte, das Rohr genau anschaute: Da, in ihrem Reet, habe sich ein zerstörerischer Pilz eingenistet. Sie hätte nun das marode Rohr gegen neues tauschen müssen. Da wären erneut 30 000 Euro fällig geworden, die sie, wen wundert's, mal eben nicht übrig hatte. Folge: Das Reet liegt noch immer auf dem Dach, gammelt vor sich hin. Inzwischen "gucke ich nicht mehr so genau hin". Eins weiß sie sicher: "Nie wieder Reet!"

Harms-Friedrichsen ist kein Einzelfall. 42 Prozent der Reetdächer denkmalgeschützter Gebäude im Landkreis Stade verrotten nach einer stichprobenartigen Untersuchung des Landesamts für Denkmalpflege in Lüneburg zu schnell. Während gutes Reet bis zu 50 Jahre hält, verfaulen bei minderwertigem Material die Halme statt um einen um vier oder sogar noch mehr Zentimeter pro Jahr. Hat sich der Schimmel erst mal bis zur Bindung vorgefressen, ist guter Rat teuer. Mittel, die die Zersetzung stoppen, gibt es (noch) nicht - und damit auch zur kostspieligen Neudeckung des Dachs keine Alternative.

Seit zehn Jahren beobachtet Dachdecker Jürgen Bathel, dass sich die Fälle häufen, in denen das Röhricht im Turbo-Tempo verwittert. "Ein Killerpilz ist jedenfalls nicht der Grund", sagt er, sondern Weiß- und Braunfäulepilze, die die Zellulose-Verbindungen des Natur-Guts zersetzen. Diese Pilze befänden sich im Prinzip überall. Doch kommt zum Modder auch noch Murks, wird also das Reet schlampig verlegt, können die Pilze umso schneller ihr Zerstörungswerk beginnen. Der Verfall beginnt meist mit einem glitschigen Biofilm, das Reet verfärbt sich, es wird braun, faserig und bröckelig, Löcher entstehen, nicht selten riecht es muffig.

Dass Gammelreet auf deutschen Dächern liegt, hängt für die Dachdecker Bathel und Junker auch mit dem Marktdruck zusammen: Reet verkauft sich gut, der Bedarf steigt. Aus Haupt-Importländern wie Rumänien oder Ungarn werde das Rohr in fast industriellen Dimensionen geerntet, während hierzulande immer weniger Schilf-Anbauflächen zur Verfügung stünden. "Wie in der Marsch, wo der Naturschutz Vorrang hat, werden hier Ernteflächen rar", sagt Junker. Noch grün und unreif werde das feuchte Süßgras geschnitten, es sei teils mit Nitrat belastet, werde unter "haarsträubenden Bedingungen" im Freien gelagert. Oft liege der Wassergehalt über den maximal zulässigen 18 Prozent. Junker: "Leider können wir in den Import-Ländern die Ernte und Lagerung nicht kontrollieren."

Warum sich die Pilze zunehmend auf Reetdächern festsetzen, ist nicht eindeutig geklärt Fest steht aber: Handwerkliche und bauphysikalische Mängel verbessern die Bedingungen für das Wachstum der Pilze. So seien neue Reethäuser häufig schlecht belüftet, die Gaubendächer zu flach konstruiert. Damit das Wasser gut abfließen kann, sollte die Dachneigung mindestens 45 Prozent betragen. Auch der Klimawandel reduziert die Haltbarkeit des Reets. Die Winter seien deutlich milder und eher verregnet - ideale Voraussetzungen für das Wachstum der wärme- und feuchtigkeitsliebenden Pilze.

Für Bathel trägt aber auch der Denkmalschutz eine Mitschuld an der Misere. In der Behörde zähle bei der Vergabe von Fördergeldern für Reetdächer (rund 30 Prozent) die Devise "Hauptsache: billig". Dieser Preisdruck begünstige jedoch "schwarze Schafe", die zehn bis 25 Prozent unter den Kosten seriöser Anbieter liegen, schätzt Bathel. Da dürfe man sich nicht wundern, wenn das Reet schlampig verlegt und das Rohr nicht akribisch auf seine Qualität geprüft wird.

Bathels Vorwurf weist Klaus Püttmann vom Landesamt für Denkmalpflege energisch zurück. Bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand erhalte nun Mal der Betrieb mit dem günstigsten Angebot den Zuschlag. Das Problem: "Da wird ein Top-Preis vorgeschlagen, aber sämtliche Angaben, zum Beispiel zur Herkunft des Reets, fehlen", sagt er. Mit welchem Reet und wie die Betriebe arbeiten, das entzog sich anfangs noch der Kenntnis des Amtes. "Wir haben nicht gemerkt, in welche Falle wir da getappt sind", gesteht Püttmann ein. Um künftig Pfusch am Bau zu verhindern, werde die Behörde sukzessive am Ausbau bindender Qualitätsstandards arbeiten. "Die Förderung muss nachhaltig sein. Ansonsten könnten wir die Steuergelder ja gleich verbrennen", sagt Püttmann.

Resistentes Reet mit hohem Holzanteil und die Suche nach Mitteln gegen das Reetdach-Sterben stehen nun im Mittelpunkt der Forschung. Püttmann rät Bauherrn, ihr Reet von einem unabhängigen Gutachter auf seine Wertigkeit testen zu lassen. So ein Labor-Siegel kostet rund 500 Euro. Püttmann: "Bei einer 30 000-Euro-Investition für ein Dach lohnt sich das."