Vergleich der historischen Mühle “Johanna“ mit der Hochleistungsanlage “Aurora“ zeigt Parallelen und Gegensätze von früher und heute.

Wilhelmsburg. Am Pfingstmontag ist Deutscher Mühlentag. Hunderte historische Mühlen öffnen dann ihre Türen, und die Müller zeigen, wie dort einst gearbeitet wurde. Ganz anders jedenfalls als in den heutigen hochmodernen Mahlfabriken. Vergleichen wir doch einfach einmal die Arbeitsweisen am Beispiel von zwei Wilhelmsburger Mühlen.

Rückblick: Wilhelmsburg im Sommer 1880: In Christoph Cordes' Mühle stehen die Getreidesäcke dicht an dicht, doch seit Tagen hat kein Wind geweht. Jetzt allerdings frischt es auf - mitten in der Nacht. Cordes weckt seine Frau Luzie und seine Gesellen, darunter auch seinen Schwiegersohn Karl Blohm. Jetzt muss gemahlen werden, wer weiß, wie lange der Wind weht.

Konzentriert gehen die Müllersleute zu Werke. Die Mühle ist schnell betriebsbereit: In den Wind gedreht hat sie sich schon von alleine, jetzt müssen die kleinen Jalousieklappen in den Flügeln nur noch so angestellt werden, dass sie optimale Bewegungsausbeute bringen. Während der erfahrene Cordes dies per Kettenzug tut, dreht Karl Blohm im Mühlenkopf die Zahnräder der vier Mahlgänge an das große Kammrad der Hauptwelle.

Jedes der hölzernen Zahnräder hat einen Durchmesser von etwa einem Meter, das Kammrad über drei Meter. Beim Anfahren ächzt, knackt und quietscht das hölzerne Getriebe deutlich, aber wenn es erst einmal läuft, wird es schon viel ruhiger. Ein Stockwerk - der Müller sagt Boden - weiter unten setzen andere Müllersleute jetzt den Seilzug in Betrieb, der seine Kraft über einen Riemen ebenfalls von der Hauptwelle bezieht. Damit werden die eineinhalb Zentner schweren Getreidesäcke vom Sackboden - dem Erdgeschoss der Mühle - durch den Absackboden, wo später das Mehl verpackt wird, auf den Steinboden gezogen. Hier, zwei Stockwerke über der Erde, befindet sich das Mahlwerk. Jetzt kann es losgehen.

+++ Götzberger Mühle soll am Mühlentag wieder mahlen +++

Noch heute kann man zusehen, wie in der Windmühle gemahlen wird. Ehrenamtliche Enthusiasten vom Wilhelmsburger Windmühlenverein haben die zwischenzeitlich anderweitig genutzte Mühle restauriert und wieder in (Schau-)Betrieb genommen. Zu Ehren der letzten lebenden Müllerin tauften sie die neu eröffnete Mühle "Johanna". Pfingstmontag ist in jedem Jahr ein wichtiger Tag für "Johanna" und andere historische Mühlen in Deutschland: Es ist Deutscher Mühlentag.

Um für das große Fest genügend von ihrem Mühlenbrot vorrätig zu haben, mahlen Gerhard Wendt, 2. Vorsitzender des Vereins, sowie die Mühlenwarte Hans Bünning und Reinhold Hack schon einmal vor - nach alter Art. Die Säcke wiegen zwar nur noch 25 Kilo, weil moderner Arbeitsschutz auch für Traditionsmühlen gilt, aber ansonsten machen sie genauso weiter, wie Cordes und seine Gesellen: Auf dem Steinboden nimmt Gerhard Wendt den Getreidesack in Empfang.Direkt unter dem Sack fällt die Klappe wieder zu, so dass niemand hindurchstürzen kann. Wendt bringt den Roggensack zu Hans Bünning. Der steht am Sichter. Das ist ein Sieb direkt über dem Mahlwerk. Hier können noch grobe Verunreinigungen aus dem Getreide gelesen werden, bevor es vermahlen wird. Der Sichter wird - ebenfalls mit Windenergie - gerüttelt. Bünning schüttet das Getreide in den Sichter.

Von dort fällt es ins Mahlwerk. Hier dreht sich nur der obere Mühlstein, der Läufer. Der untere heißt Lieger und macht, was sein Name vorgibt. Gewicht und Drehbewegung des Läufers zermahlen die Körner auf dem Lieger. Der Abstand zwischen Läufer und Lieger wird vom Müller vorjustiert.

Windbedingte Schwankungen der Drehgeschwindigkeit über eine einfache aber präzise Fliehkraftmechanik werden ausgeglichen, indem diese den Druck des Liegers noch einmal erhöht oder etwas verringert. Das fertige Mehl fällt nun über eine Schütte ein Stockwerk nach unten in den Absackboden, wo es entweder gleich abgepackt, oder noch einmal in die Misch-Schnecke gegeben wird. Das Mehl ist fertig und kann zum Bäcker, damit er rechtzeitig das Mühlenbrot fertig hat. "Mit der Qualität des Mehls ist der Bäcker immer ganz zufrieden", sagt Gerhard Wendt, "das kriegen wir also ziemlich gut hin." Drei Zentner haben die Hobbymüller in einer Stunde gemahlen.

Szenenwechsel: Montagmorgen, drei Kilometer von der Windmühle entfernt: Obermüller Rainer Witte hat den Sonntag genossen und begibt sich zu seinem Arbeitsplatz, der Wilhelmsburger Aurora-Mühle am Reiherstieg. Seit Ende der Nachtschicht am Sonnabendmorgen stand die Anlage, jetzt wird sie wieder angefahren. Auf dem Hof und an der Kaimauer warten schon Lkw und Schiffe mit Getreide. Sie werden nicht sofort entladen, sondern erst einmal beprobt. Dabei geht es nicht nur darum, ob das Getreide überhaupt angenommen wird - das ist meistens der Fall -, sondern auch darum, dass die Mühle gleich um die Qualität jeder einzelnen Charge weiß, um sie schon beim Mahlen bedarfsgerecht mischen zu können. Klebergehalt, Fließgeschwindigkeit und Hektolitergewicht des Getreides sind die Kenndaten, die Obermüller Witte interessieren und die Hans-Heinrich Hagenah, Leiter des Qualitätsmanagements, ihm nach 20 Minuten liefert. Fast 200 000 Tonnen Weizen und Roggen verarbeitet die Mühle im Jahr.

Auch Industriemüller Witte arbeitet mit Wind. Allerdings erzeugt diesen die Mühle selbst. Sobald das Getreide das Lagersilo verlässt, befindet es sich in einem Luftstrom und verlässt ihn nicht wieder, bis es als Mehl in der Tüte und als Spelze im Futtermittelsack landet. Schon beim Einlagern wurde das Getreide einmal mit Druckluft vorgereinigt. "So bekommen wir Strohreste, Unkrautsaaten und Steine heraus", sagt Qualitätsmanager Hagenah. Das Getreide wird nun noch einmal gesichtet - obwohl dabei kaum jemand hingucken muss. Die großen mechanisch gerüttelten Siebanlagen sind geschlossene Kästen mit nur kleinen Öffnungen zur Probenentnahme und arbeiten zuverlässig. Von hier geht das Getreide per Druckluft ein Stockwerk tiefer auf den Mahlboden. Dort drehen sich an 26 Walzenstühlen die Mahlwerkswalzen gegeneinander, unterschiedlich schnell, damit die Körner nicht nur zerquetscht, sondern auch zerrieben werden. Die schnellere Walze läuft mit "Voreilung". Dieses Stück Müllerdeutsch hat sich übrigens als "voreilig" in die Gebrauchssprache geschlichen. Der Grad der Voreilung variiert von Mahlvorgang zu Mahlvorgang, fachmännisch "Passage" genannt.

"Wir mahlen das Korn von innen nach außen", sagt Müller Witte. "In der ersten Passage wird der innere Mehlkörper vom Korn getrennt. Der beinhaltet das feinste, mineralstoffarme und kleberreiche Mehl."

Die Schalen, an denen noch viel Mehl und Kleie anhaftet, werden in zwölf weiteren Passagen immer weiter vom Mehl befreit, wobei die Mehlausbeute immer mineralhaltiger wird. Das ist in Vollkornbrot zwar erwünscht, für Feinbackwaren und Weißbrot jedoch nicht brauchbar. Deshalb wird Mehl auch in verschiedene Typen klassifiziert, wobei die geringere Zahl den geringeren Mineralgehalt bedeutet. Um die Qualität konstant zu halten, werden Mehle aus verschiedenen Passagen vermischt. Auch das geschieht rechnergesteuert und automatisch. Obermüller Witte und seine 14 Azubis und Müller - die korrekte Berufsbezeichnung lautet mittlerweile Lebensmitteltechnologe - überwachen den Prozess an Computerbildschirmen und kleinen Sichtfenstern abseits des lauten Geschehens auf den einzelnen Böden. Eingreifen müssen sie nur selten.

Ein Großteil des Mehls geht direkt in die Packerei oder in Spezial-Lkw, die die Großbäckereien beliefern. Bevor das Mehl die Mühle verlässt, geht jede Sendung noch einmal durch einen Metalldetektor um sicherzustellen, dass die Maschinen nichts im Material vergessen haben. Ein Teil des Mehls wird in die eigene Mischerei geschickt. Hier werden Backmischungen für den Hausgebrauch und für den Profi hergestellt. Dafür gibt es in der Qualitätskontrolle eine eigene Versuchsbäckerei - und als gelernter Bäcker kann Qualitätsmanager Hagenah gut beurteilen, was seine Mischungen taugen. Zum Mühlentag am Pfingstmontag werden wohl auch Müller der Aurora-Mühle die Windmühle Johanna besuchen. Eingeladen sind sie, und der Kontakt ist freundschaftlich. Immerhin spendet die Aurora-Mühle dem Verein das Getreide.