Der preisgekrönte Dichter ist in Stade aufgewachsen. Er sagt: Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration.

Abendblatt:

Herr Cumart, Sie verbrachten Ihre Jugend in Bützfleth und haben kürzlich ihre ehemalige Schule wieder besucht. Hat sich die Stadt stark verändert?

Nevfel Cumart:

Ja. Die Stadt hat sich sehr gut gemacht. Vor allem die Integrationsarbeit der Stadt ist besser geworden. Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber hier sind jetzt jahrzehntelange Defizite behoben worden. Das hat mich tief beeindruckt.

Abendblatt:

Versäumnisse in der Integrationsarbeit gibt es aber nicht nur in Stade...

Cumart:

Natürlich nicht. Es war ein allgemeines Problem, dass Anfang der 60er-Jahre Menschen gekommen sind. Das war die erste Überraschung, denn man wollte nur Arbeitskräfte haben. Dann kam die zweite Überraschung, als diese Menschen geblieben sind. Damit hatte die Politik nicht gerechnet. Und jetzt haben wir Menschen wie meinen Vater, der seit rund 49 Jahren in Bützfleth lebt. 45 Jahre lang haben wir in Deutschland gehört, dass wir kein Einwanderungsland seien. Aber die Realität war immer eine andere. Irgendwann hat die Politik dann erkannt, dass Handlungsbedarf besteht.

Abendblatt:

Wo zum Beispiel?

Cumart:

Zum Beispiel bei der Sprachausbildung, beim islamischem Religionsunterricht oder der Staatsbürgerschaftsfrage. Mir scheint, dass das diese Themen jetzt gut bearbeitet werden. Die ausländischen Menschen kommen somit allmählich aus der Isolation heraus. Es hat sich vieles verbessert.

Abendblatt:

Gilt das auch für den schulischen Bereich?

Cumart:

Ich war früher am Vincent-Lübeck-Gymnasium der einzige ausländische Junge. Doch als ich neulich dort war, habe ich gesehen, dass dort jetzt einige ausländische Kinder sind. Das hat mich innerlich gefreut. Ich denke, dass wir auch hier ein Stück weiter gekommen sind. Die Zugangsmöglichkeiten zum Gymnasium sind für viele sicherlich leichter geworden.

Abendblatt:

Bedeutet ein leichterer Zugang zur Schule auch einen leichteren Zugang zur Literatur?

Cumart:

Ich denke schon. Ich bin ein unerschütterlicher Optimist und überzeugt, dass das Buch bleibt. Das Heranführen der Kinder an die Lyrik klappt zuweilen gut, weil dort die Ängste, Wünsche und Sehnsüchte widergespiegelt werden. Meine Bände mit Liebesgedichten haben mir die Stader Schüler sofort weggekauft. Aber ich erlebe auch Fälle, dass Schüler in der zehnten Klasse stolz darauf sind, noch nie ein Buch gelesen zu haben.

Abendblatt:

Frustriert Sie das?

Cumart:

Ich weiß nicht ob ich die bemitleiden oder beglücken soll, aber wohl eher ersteres. Es frustriert insofern, als dass ich ein Helfersyndrom habe und alle retten will.

Abendblatt:

Gibt es Ihrer Meinung nach Momente, in denen es die Lyrik Kindern leichter macht, sich zu öffnen, zu integrieren?

Cumart:

Ja. Wenn es einfache, schlichte Texte sind, gibt es viele Werke, die Kinder verändern können. Aber ich bin kein Träumer und weiß, dass nicht alle für Literatur und Toleranz gewonnen werden können. Die Lyrik hat den Vorteil, dass in kurzer Zeit vieles und verschiedenes vermittelt werden kann.

Abendblatt:

Sehen Sie sich eigentlich zuweilen als ein Vorbild für die Jugend?

Cumart:

Ich habe mich vorher nicht getraut das so zu sagen, aber es trifft zu. Und ich werde ja auch in Schulen eingeladen, um ein bisschen Vorbild zu sein.

Abendblatt:

Und wie reagieren die Schüler bei solchen Besuchen dann auf Sie?

Cumart:

Die sind oft stolz, dass einer von ihnen es nach oben geschafft hat.

Abendblatt:

Wie kann eine Integration funktionieren?

Cumart:

Wir müssen vor allem hinsichtlich der Berufsausbildung die Sprachförderung weiter verbessern, denn die Sprache ist ein wichtiger Schlüssel zur Teilhabe.

Abendblatt:

Was spielt dabei noch eine Rolle ?

Cumart:

Die Staatsbürgerschaft ist wichtig, sie hilft weiter. Ich bekam sie anfangs auch nicht mit der Begründung, ich würde der Gesellschaft zur Last fallen. Als ich später erneut einen Antrag stellte, hatte ich bereits Literaturpreise gewonnen. Ich wurde eingebürgert. Begründung: Ich sei eine große Bereicherung für die deutsche Gesellschaft. Das ist absurd. Derselbe Mensch, dieselbe Nase - aber zwei konträre Entscheidungen.

Nevfel Cumart, geboren 1964 in Lingenfeld (Rheinland-Pfalz), zählt mit vierzehn Gedichtbänden zu den profiliertesten Lyrikern der jüngeren Generation in Deutschland. Er wuchs in Stade auf und studierte Turkologie, Arabistik und Islamwissenschaft. Seit 1993 arbeitet er freiberuflich als Schriftsteller, Referent, Übersetzer und Journalist . Für sein literarisches Werk hat er mehrere nationale und internationale Preise erhalten. Vor wenigen Tagen hat Cumart das Vincent-Lübeck-Gymnasium in Stade besucht, um mit Schülern über Literatur und Integration zu sprechen. Derzeit lebt der Dichter in der Nähe von Bamberg (Bayern).