Schleswig-Holstein

„Null-Toleranz-Strategie bei Antisemitismus“

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Eine Musikgruppe spielt beim Festakt zur Wiedereröffnung der Carlebach Synagoge in Lübeck. Schleswig-Holstein will in Zukunft konsequenter gegen Antisemitismus vorgehen.

Eine Musikgruppe spielt beim Festakt zur Wiedereröffnung der Carlebach Synagoge in Lübeck. Schleswig-Holstein will in Zukunft konsequenter gegen Antisemitismus vorgehen.

Foto: Christian Charisius / picture alliance / dpa / POOL / Christian Charisius

Oberstaatsanwältin Silke Füssinger soll die Diskriminierung jüdischer Mitbürger bekämpfen. Das sind ihre Maßnahmen.

Schleswig-Holstein.  Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein sagt dem Antisemitismus im Land den Kampf an. Man werde alle antisemitischen Straftaten, auch die im Internet begangenen, mit „großem Nachdruck und mit einer Nulltoleranzstrategie verfolgen“. Das sagte Silke Füssinger, Oberstaatsanwältin und erste Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft des Landes, wenige Tage nach ihrem Amtsantritt im Abendblatt-Interview.

Sie war zunächst bei der Staatsanwaltschaft Kiel zuständig für die Bekämpfung von politisch motivierter Kriminalität und Verfahren von besonderer politischer Bedeutung. Heißt: Sie beschäftigt sich schon seit Jahren intensiv mit Antisemitismus im Land. Seit 2017 leitet sie bei der Generalstaatsanwaltschaft die Zen­tralstelle Terrorismus und Extremismus.

Frau Füssinger, Antisemitismus zeigt sich von rechts außen, von links, in vielen antiisraelischen Äußerungen, von Islamisten und von Verschwörungstheoretikern – von wem geht aktuell die größte Gefahr aus?

Silke Füssinger: Den Strafverfolgungsbehörden in Schleswig-Holstein ist seit langem vor allem der rechtsextremistische Antisemitismus bekannt. Die weiteren genannten Erscheinungsformen von Antisemitismus beschäftigen uns erst seit den letzten Jahren. Die aktuellen Entwicklungen sind dynamisch. Ich beobachte daher alle Phänomene mit großer Sorge.

Wo wollen Sie erste Schwerpunkte als Antisemitismus-Beauftragte setzen?

Silke Füssinger: Meine vorrangige Aufgabe wird es sein, die Kompetenzen der Staatsanwaltschaften des Landes weiter zu stärken, wenn es darum geht, antisemitische Straftaten zu erkennen und zu verfolgen. Dafür braucht es einen intensiven Austausch mit den Dezernentinnen und Dezernenten der Staatsanwaltschaften vor Ort. Der Generalstaatsanwalt will mit dieser Stelle aber auch ein deutliches Zeichen setzen – für die Öffentlichkeit, für die Jüdinnen und Juden in Schleswig-Holstein. Sie sollen über die Antisemitismusbeauftragte einen unkomplizierten Zugang zur Institution Staatsanwaltschaft bekommen. Sie dürfen, wenn sie uns erreichen wollen, nicht in einer Telefonzentrale festhängen oder gar davon abgehalten werden, sich überhaupt zu melden.

Frau Füssinger, Sie sollen helfen, dass die Staatsanwaltschaften landesweit antisemitisch motivierte Straftaten schneller erkennen und Ermittlungen einleiten – „einheitlich und konsequent“, heißt es in der Behörden-Mitteilung. Das heißt doch, dass es bislang keine landesweit einheitliche und konsequente Strafverfolgung gibt – oder?

Silke Füssinger: Dieser Schluss ist so nur bedingt richtig. Antisemitisch motivierte Straftaten wurden bereits in der Vergangenheit bei den Staatsanwaltschaften des Landes Schleswig-Holstein in besonderen Zuständigkeiten mit Entschiedenheit verfolgt. Jetzt geht es darum, diese Arbeit weiter zu verbessern und durch die Schaffung einheitlicher Standards zu unterstützen. Wichtig ist die einheitliche Beantwortung von Rechtsfragen und das Entwickeln von Standards bei den Ermittlungen auch im Zusammenwirken mit der Polizei. Es geht aber auch darum, wie wir mit den Opfern solcher Straftaten umgehen, wir müssen sie verständlich und empathisch informieren, erst recht wenn es zur Einstellung von Ermittlungen kommt.

Das heißt: Ab sofort gilt bei Antisemitismus null Toleranz statt zu viel Toleranz?

Silke Füssinger: So ist es. Die Staatsanwaltschaften im Land werden alle antisemitischen Straftaten, auch die, die im Internet begangen werden, mit großem Nachdruck und mit einer Null-Toleranz-Strategie verfolgen.

Wie viele Fälle von Antisemitismus wurden 2020 zur Anzeige gebracht, wie viele angeklagt, wie oft kam es zu einer Verurteilung?

Silke Füssinger: 2020 wurden bei den Staatsanwaltschaften des Landes Schleswig-Holstein 62 Ermittlungsverfahren mit Antisemitismus-Bezug gegen insgesamt 51 Personen neu eingeleitet. In dem Jahr wurde gegen 18 Beschuldigte Anklage erhoben bzw. Antrag auf Erlass eines Strafbefehls bei Gericht gestellt. In acht Fällen kam es 2020 zu rechtskräftigen Verurteilungen. Für das Jahr 2021 hat sich die Anzahl der neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen namhaft gemachte Beschuldigte im Vergleich mit dem Vorjahr mehr als verdoppelt.

Experten sprechen von einem „erschreckend alltäglichen Antisemitismus“ auch in Schleswig-Holstein. Das ist die wahrgenommene oder auch die politische Ebene. Die andere Ebene ist die der Strafbarkeit: Sind als Beleidigung gemeinte Stereotypen wie „du Jude“ schon antisemitisch?

Silke Füssinger: Antisemitische Stimmungsmache zeigt sich in vielfältigen Formen und greift häufig auf Stereotype zurück, die antisemitische Ressentiments schüren. Es handelt sich um Verallgemeinerungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen im Alltag, bei denen es auch um das Verschieben des Sagbaren geht. Äußerungen und Handlungen dieser Art müssen aber nicht immer zugleich die Grenze der Strafbarkeit überschreiten. Daher deckt sich die Wahrnehmung des „alltäglichen Antisemitismus“ auch nicht immer mit den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden.

In der Mitteilung ihrer Behörde ist von „rasant zunehmenden Fällen antisemitisch motivierter Hasskriminalität“ die Rede. Jetzt wurden 2020 in Schleswig-Holstein laut Verfassungsschutzbericht 45 antisemitische Straftaten erfasst, fast 30% weniger als im Vorjahr …

Silke Füssinger: Hasskriminalität hat in den letzten Jahren insbesondere im Internet deutlich zugenommen. Dabei werden zunehmend auch antisemitische Inhalte verbreitet. Diese Entwicklung wird aktuell verstärkt durch das Geschehen rund um die Corona-Pandemie, die Verschwörungstheorien befördert, auch solche antisemitischer Art. Diese Entwicklung ist nicht nur gefühlt, sondern drückt sich für die Staatsanwaltschaften in Schleswig-Holstein auch in Zahlen aus. Die aktuellen Zahlen für die Jahre 2020 und 2021 hatte ich bereits dargelegt. Eine längerfristige Betrachtung der Entwicklung ist anhand der Zahlen zu rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Straftaten möglich, die die Staatsanwaltschaften schon seit Jahren statistisch erfassen. Dort ist im Vergleich von 2015 zu 2020 ein deutlicher Anstieg antisemitischer Straftaten zu verzeichnen. So gab es in 2015 in Schleswig-Holstein insgesamt 827 Verfahren wegen rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Straftaten, bei denen in sieben Fällen ein Antisemitismus-Bezug vorlag. 2020 verzeichneten wir bei insgesamt 1416 neuen Verfahren in 52 Fällen einen antisemitischen Zusammenhang. Die Zahlen sind also bereits in diesem Zeitraum drastisch gestiegen.

Der Verfassungsschutz berichtet, dass Ende 2020 Aktionen gegen Corona-Maßnahmen „immer feindseliger“ wurden, von „geistiger Brandstiftung“ ist die Rede, von „gewalttätigen Ausschreitungen“ und von Antisemiten als Teil der „Querdenken“-Bewegung. Führen Sie aktuell Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Corona-Protesten?

Silke Füssinger: Auch von den Staatsanwaltschaften des Landes Schleswig-Holstein werden Ermittlungsverfahren in diesem Zusammenhang geführt, vornehmlich wegen Internet-Veröffentlichungen. Es geht aber beispielsweise auch um Ermittlungen wegen einer Rede im Rahmen einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen, bei der Rhetorik der NS-Propaganda genutzt worden sein soll.

Wurde der alltägliche Antisemitismus in Deutschland zu lange unterschätzt?

Silke Füssinger: Antisemitische Haltungen, gerade im rechtsextremistischen Milieu, gab es schon immer. Allerdings wurden diese nur in seltenen Fällen offen geäußert und damit strafrechtlich auffällig. Neu ist, wie unverhohlen insbesondere in der vermeintlichen Anonymität des Internets mittlerweile antisemitische Inhalte verbreitet und Ressentiments gegenüber Jüdinnen und Juden offen geschürt werden. Dagegen muss entschieden vorgegangen werden. Dazu soll auch das neue Amt der Antisemitismusbeauftragten der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein beitragen.