Uetersen/Hamburg. Erhard Göttlicher malte 1994 für den „Stern“ ein Riesen-Gemälde über den deutschen Nationalismus. Warum es jetzt in ein bedeutendes Museum kommt.

  • Das Bild dokumentiert den Weg des deutschen Nationalismus bis Hitler und wirft ein Schlaglicht auf den erstarkenden Neonazismus
  • Göttlichers Werk ist nun im Besitz des Museums für Hamburgische Geschichte
  • Ein aktuelles Motiv zum Thema Nationalismus wäre nach Göttlichers Worten die AfD

Die Ausgabe des „Stern“ aus dem Mai 1994 dürfte so manchem Leser des Hamburger Magazins in Erinnerung geblieben sein: Ein ausklappbares Gemälde über neun Seiten zum Auftakt der Serie „Deutschland über alles“. Schöpfer des monumentalen Werkes mit dem Titel „Deutscher Nationalismus“ war der Uetersener Kunstprofessor Erhard Göttlicher.

In seinem Atelier entstand „das Panorama eines heillosen Wahns, die Blutspur der Attentate, die Protagonisten einer fatalen Entwicklung“, wie es im Vorwort der „Stern“-Ausgabe heißt.

Berühmtes XXL-Gemälde über deutschen Nationalismus ist museumsreif

Es ist ein Bild, an dem Göttlicher persönlich viel liegt, dokumentiert es nicht nur den Weg des deutschen Nationalismus bis Hitler, sondern es wirft auch ein Schlaglicht auf den erstarkenden Neonazismus im noch nicht lange wiedervereinigten Deutschland mit dem Brandanschlag 1993 in Solingen.

An die besonderen Maße des Werkes mit 3,98 mal 0,73 Meter erinnert sich der Künstler noch sehr gut, auch an die vielen Stunden künstlerischer Arbeit. „Fünf Wochen habe ich daran gesessen.“ Die Entwürfe für die einzelnen Themen des Geschichtsszenarios entstanden auf Papier, wurden mit der Redaktion diskutiert und abgestimmt.

Zu Füßen von Erhard Göttlicher liegen die Seiten aus dem „Stern“ von 1994 mit dem mehrseitigen Werk „Deutscher Nationalismus“. Das Bild neben ihm zeigt als Ausschnitt davon das letzte Motiv mit einem Neonazi, das damals in der Auswahl für die Titelseite des Magazins war.
Zu Füßen von Erhard Göttlicher liegen die Seiten aus dem „Stern“ von 1994 mit dem mehrseitigen Werk „Deutscher Nationalismus“. Das Bild neben ihm zeigt als Ausschnitt davon das letzte Motiv mit einem Neonazi, das damals in der Auswahl für die Titelseite des Magazins war. © Manfred Augener

Entwürfe der einzelnen Motive mit der Redaktion diskutiert und abgestimmt

Weitere Motive sind beispielsweise der Mord am Schriftsteller August von Kotzebue, der Nation und Vaterland verspottete und daraufhin 1819 von Studenten ermordet wurde, die Reichsgründung 1871, bei der Otto von Bismarck „mit Eisen und Blut“ das neue Deutsche Reich gründete.

Kaiser Wilhelm II., der das Deutsche Reich zur Weltmacht erheben wollte und Deutschland in den Ersten Weltkrieg führte, oder die Ermordung Walther Rathenaus 1922, der von Rechtsradikalen erschossen wurde. Letztlich wurde das Werk auf eine knapp vier Meter lange Holzplatte übertragen. Kaschiert, wie es im Fachjargon heißt.

Ehemaliger Artdirector des „Stern“ sorgt für Transfer ins Museum

Umso überraschender für den Uetersener, dass sein Mammutwerk im Auftrag des „Stern“ nun nach Jahrzehnten außerhalb des Rampenlichts wieder einem breiteren Publikum zugänglich werden wird. Denn neues Domizil des Gemäldes ist das Museum für Hamburgische Geschichte (MHG). Dort liegt es derzeit noch gut verpackt im Depot.

Das opulente Gemälde des Uetersener Künstlers Erhard Göttlicher mit dem Titel „Deutscher Nationalismus“ misst 3,98 mal 0,73 Meter. 1994 druckte der „Stern“ das Werk auf neun Seiten.
Das opulente Gemälde des Uetersener Künstlers Erhard Göttlicher mit dem Titel „Deutscher Nationalismus“ misst 3,98 mal 0,73 Meter. 1994 druckte der „Stern“ das Werk auf neun Seiten. © Wolfgang Behnken

Doch wie kam es zum unerwarteten Zuwachs der Hamburger Museumssammlung? Schlüsselfigur ist Wolfgang Behnken, der langjährige Artdirector des „Stern“. In dieser Funktion holte er Göttlicher 1994 ins Boot, als es darum ging, den Lesern zum Auftakt der Serie „Deutschland über alles“ von Heinrich Jaenecke auch ein optisches Highlight zu bieten. Göttlicher hatte sich als „kritischer Realist“ bei Behnken bereits mit seinen Zeichnungen für „Schindlers Liste“ und zu Folteropfern in Südamerika einen Namen gemacht.

Kein Platz mehr für das meterlange Werk in neuen Agenturräumlichkeiten

Später hing das Gemälde lange in der Chefredaktion des „Stern“. Behnken erinnert sich, dass es intern und auch bei Besuchern oft für „heiße Diskussionen“ sorgte. Zu seinem Abschied als Artdirector des „Stern“ ging das Gemälde in seinen Besitz über. Er fand dann auch gleich einen Platz für das großformatige Werk, und zwar in seiner Agentur Behnken, Becker und Partner.

Und auch dort, erinnert er sich im Gespräch mit dem Abendblatt, sorgte das Gemälde nicht selten für Gesprächsstoff. Nun allerdings zieht die Agentur in neue Räumlichkeiten, in denen kein Platz mehr für das sperrige, meterlange Werk ist.

Wissenschaftler: Attraktives Sammelobjekt der hamburgischen Mediengeschichte

Behnken kam daraufhin die Idee, das Bild dem MHG zur Verfügung zu stellen und stieß dort auf offene Ohren. „Ein sehr spannendes Objekt“, sagt Sönke Knopp, „und vor allem vielfältig einsetzbar.“ Knopp ist promovierter Kulturwissenschaftler und im MHG als Fachwissenschaftler für das 20. und 21. Jahrhundert zuständig.

Primär sei das Werk dank der Veröffentlichung im „Stern“ ein attraktives Sammelobjekt der hamburgischen Mediengeschichte. Außerdem sorge der inhaltliche, geschichtliche Aspekt des Gemäldes dafür, dass es immer wieder bei zukünftigen Sonderausstellungen präsentiert werden könne.

Auch andere Hamburger Museen profitieren vom Depot des MHG

Das sei insofern interessant, als dass vom Depot des MHG auch andere historische Museen der Hansestadt wie das Altonaer Museum und das Museum der Arbeit profitierten. In welcher Form Museumsbesucher Göttlichers Geschichts-Szenario künftig sehen können, wird also spannend werden.

Der Uetersener jedenfalls findet es wunderbar, dass sein Werk dank Behnken den Weg zurück in die Öffentlichkeit finden wird. Fiele dem 1946 in Graz/Österreich geborenen Göttlicher heute, fast 30 Jahre nach der Fertigstellung, ein weiteres Motiv zu seinem Bild „Deutscher Nationalismus“ ein? Der Künstler überlegt nicht lange: „Die AfD.“

Erhard Göttlicher Kunstprofessor und Direktor von internationalem Ruf

Erhard Göttlicher war von 1984 bis 2012 Professor für Kunst und Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, dort auch Direktor der Internationalen Akademie für Kunst und Gestaltung „Pentiment“.

Er hat mehr als 30 Kulturpreise und Auszeichnungen bekommen – unter anderem in Berlin, Rom, Palo Alto und New York –, bestritt zudem mehr als 200 Einzelausstellungen von Kopenhagen über Zürich bis Berlin, aber auch im norddeutschen Raum. Dazu kommen mehr als 500 Ausstellungsbeteiligungen in mehr als 40 Ländern. Göttlicher, auch Träger des Kulturpreises des Kreises Pinneberg, zählt zur Künstlergruppe der „Norddeutschen Realisten“.