Yama Qadrey kam allein als Flüchtling aus Afghanistan nach Uetersen. Das Kreisjugendamt ist jetzt sein Vormund

Dieses Datum wird er nie vergessen: Am 27. September 2013 verließ Yama Qadrey allein sein Zuhause in der Stadt Sar-i Pul im Norden Afghanistans. Das Ziel des damals 15-Jährigen war Europa. Vor fast einem Jahr, am 18. Februar 2014, haben ihn Schlepper schließlich nach monatelanger Flucht einfach in Pinneberg ausgesetzt – allein in einem fremden Land. Seine Mutter, zwei kleine Brüder und eine jüngere Schwester musste Yama in der Heimat zurücklassen. „Ich denke ständig an sie“, sagt er. Die Vormundschaft für ihn hat das Kreisjugendamt übernommen.

Der Grund für seine Flucht hängt mit dem Verschwinden des Vaters zusammen: „Er war Fahrer für die Amerikaner“, sagt er – nicht gern gesehen von den Taliban. Yama und seine Familie mussten davon ausgehen, dass er verschleppt wurde. Was mit ihm letztendlich passiert ist, ist ungewiss. Da Yama der älteste Sohn ist, musste er befürchten, dass die Taliban auch ihn holen. Zusammen mit einem Onkel, der in Belgien lebt, organisierte die Familie schließlich seine Flucht. Der Onkel bezahlte sogar die Schlepper, immerhin fast 15.000 Dollar.

Yama lebt jetzt in Uetersen in einer betreuten Wohngruppe der Awo, die Jugendliche auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Er ist der einzige Flüchtling dort, obwohl es laut dem Leiter der Awo-Wohngruppen in Pinneberg, Bjarne Becker, immer wieder Anfragen gebe, sogenannte unbegleitete Flüchtlinge aufzunehmen. Nicht nur aus dem Landkreis. „Wir haben nicht genügend Platz“, so Becker. Darüber hinaus gebe es kein spezielles Konzept für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, obwohl das Konzept der Wohngruppe, die „Verselbstständigung“, ganz gut funktioniere. Vier Mal in der Woche geht Yama zur Berufsschule in Pinneberg, dort gibt es eine Klasse mit etwa 40 jugendlichen Flüchtlingen. Nächstes Jahr kann er dort den Hauptschulabschluss machen.

In Uetersen kümmern sich zwei Betreuer um Yama und seine Mitbewohner. Allerdings: „Wenn man aufwächst, gehört normalerweise dazu, dass man auch mal Mist baut“, so Becker. Was für einen Einheimischen eher weniger Konsequenzen hätte, könnte für Yama im schlimmsten Fall die Abschiebung bedeuten. „Es gibt zudem keine Angebote für traumatisierte Flüchtlinge“, so Becker.

Seit seinem Fortgehen hat Yama nichts mehr von seiner Familie gehört. Über Facebook beauftragte er Freunde in seiner Heimat, nach seiner Familie zu sehen. Erfolglos. „Dort leben jetzt andere Menschen“, hieß es. Seine letzte Hoffnung ist sein Onkel, der bald nach Afghanistan reist.

Auf der Flucht brachten ihn die Schlepper über den Iran und die Türkei nach Europa. Gereist wurde nur bei Nacht, erzählt Yama, in kleinen Lieferwagen mit bis zu 25 anderen Menschen. Die Tage verbrachte er in Wohnungen, mal mit 30 anderen, mal mit fünf. Und nicht in jede Nacht ging es voran. „Die Schlepper wählten nur kleine Gruppen aus, die weiter durften. Niemand nahm dabei auf Familien Rücksicht, einige wurden getrennt.

Wie so viele Flüchtlinge wusste Yama bei seiner Ankunft nicht, wohin er gehen soll. In jener Nacht, als er plötzlich in Pinneberg auf der Straße stand, ging er zur Polizei. Die reagierte laut Amtsvormund Krohn unglücklich: „Die Polizei hätte ihn sofort ins Kinderschutzhaus nach Elmshorn bringen müssen, das wäre die übliche Vorgehensweise gewesen.“ Stattdessen bekam Yama ein Zugticket nach Neumünster zur Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Schleswig-Holstein. Da unbegleitete Flüchtlinge nur in Ausnahmefällen in eine Massenunterkunft dürfen, schickte man ihn nach einer Nacht zurück nach Pinneberg – und wieder sagte ihm niemand, wo er sich zu melden hat. Erneut ging er zur Polizei, die ihn nun ins Kinderschutzhaus brachte.

Eine Zeit lang war nicht klar, ob Yama überhaupt minderjährig ist, da sich sein Geburtsdatum im Afghanistan geltenden persischen Kalender vom Datum im hier geltenden gregorianischen Kalender unterscheidet. Oft geben sich Flüchtlinge bei ihrer Ankunft als Minderjährige aus. Ein Gericht ordnete eine Untersuchung an. Solange gab es für Yama weder Jugendhilfe noch das Recht, zur Schule zu gehen. Er bekam zudem keine Deutsch-Kurse bezahlt. Aufgrund kostenloser Angebote im Kinderschutzhaus und beim Diakonieverein Migration konnte er dennoch seine ersten Versuche in der neuen Sprache machen. Nach der Untersuchung, die den 2. Juni 1998 als seinen Geburtstag feststellte, zog er Anfang November nach Uetersen.

Mit 16 Jahren müssen Flüchtlinge sich selber um ihr Asylverfahren kümmern. Yama wartet noch auf seinen Anhörungstermin. Seinen Asylantrag hat er bei seiner Ankunft vor fast einem Jahr gestellt. Er sagt: „Ich kriege mit, dass das bei anderen schneller geht. Die warten drei Monate und haben ihren Termin. Aber ich mach mir da keine Sorgen, mir geht es ja gut hier.“ Mit 18 Jahren ist Yama volljährig, und die Vormundschaft des Kreises endet. Dabei richtet sich die Volljährigkeit nicht nach der deutschen Rechtsprechung, sondern nach der afghanischen, die nur zufällig der deutschen gleicht. So gelten ägyptische Flüchtlinge auch in Deutschland erst mit 21 als volljährig.

Bekommt er Asyl, wünscht Yama sich, seinen Schulabschluss zu machen und dann einen guten Job zu bekommen. Seine Situation prägt ihn: „Ich habe immer gern Menschen geholfen und würde gern im Jugendamt oder in der Ausländerbehörde arbeiten.“ In einem anderen Traum lebt seine Familie hier.