Professor Christian Martin, Politikwissenschaftler der Uni Kiel, über das Spannungsverhältnis von Wahlkreis- und Fraktionsinteressen

Hamburger Abendblatt:

Wessen Interessen sollte sich ein Landtagsabgeordneter mehr verpflichtet fühlen: denen seines Wahlkreises oder denen seiner Fraktion?

Christian Martin:

Das muss kein Widerspruch sein. Die Fraktionslinie im Landtag bildet die Interessen der Abgeordneten und ihrer Wahlkreise mit ab. Die Abgeordneten bringen ihre Wahlkreisinteressen ein und dann wird ein Kompromiss gesucht – in der Fraktion, mit den anderen Parteien der Koalition, aber auch mit der Opposition. Die Abgeordneten müssen dabei natürlich auch die Interessen ihrer Wahlkreise berücksichtigen. Das weiß aber auch die Fraktion: Wer auf Dauer nichts für seinen Wahlkreis tut, wird nicht wieder gewählt. Und das schadet auch der Partei.

Und wie sieht das Ihrer Beobachtung nach in der Praxis aus?

Martin:

Ohne Fraktionsdisziplin kann ein parlamentarisches System nicht funktionieren. Das bedeutet keinen Kadavergehorsam gegenüber der Fraktionslinie, aber die Abgeordneten wissen, dass sie nicht alles durchsetzen können, was sie wollen und dass sie manchmal auch zurückstecken müssen. Das dient nicht zuletzt auch den Interessen ihres Wahlkreises, weil sich die Bereitschaft zum Kompromiss langfristig durchaus auszahlt.

Sind Kommunal- und Kreispolitik eine gute Schule für Landtagsabgeordnete?

Martin:

Politik ist die angewandte Kunst des Kompromisses. Wer erfolgreich Politik gestalten wird, erlernt diese Kunst am besten früh, und das kann durchaus auf kommunaler Ebene geschehen. In den Gemeinden lernt man, dass es darauf ankommt, den Menschen zuzuhören, dass aber auch Entscheidungen notwendig sind, die nicht allen passen. Diese Spannung auszuhalten und produktiv zu verarbeiten, gehört zum Repertoire des erfolgreichen Politikers.

Manch ein Landtagsabgeordneter ist gleichzeitig Kommunalpolitiker. Wie beurteilen Sie solch eine Doppelfunktion?

Martin:

Ich kann darin keinen Schaden erkennen. Es verwurzelt die Landespolitik in den Kommunen und bringt umgekehrt die Perspektive des größeren Ganzen zurück. Man könnte diese Professionalisierung der Kommunalpolitik durch die Hintertür problematisieren, aber das ist in meinen Augen eine Scheindebatte. Sicher, der Landtagsabgeordnete hat als Berufspolitiker größere Ressourcen als der Feierabendpolitiker in den Kommunen. Ich sehe aber nicht, wie das negativ auf die Kommunalpolitik wirkt. Vergessen wir nicht: All diese Ämter sind an den Wählerwillen und an die Meinungsbildung in den Parteien gekoppelt. Wer diesen Ansprüchen nicht genügt, verliert sein Amt.

Welchen Rat würden Sie Menschen geben, die den Schritt vom Feierabend- zum Berufspolitiker machen?

Martin:

Kümmern Sie sich um die Sache, nicht in erster Linie um das Amt. Wer sich in der Sache auskennt, wird gefragt, und wer gefragt wird, kann Einfluss nehmen. Hören Sie nicht auf, mit dem Menschen zu sprechen; hören Sie zu, aber vermitteln und vertreten Sie auch die politischen Entscheidungen, an denen Sie beteiligt sind. Bleiben Sie authentisch und verstellen Sie sich nicht aus Angst vor schlechter Presse.