Seit 40 Jahren ist Hannes Birke Abgeordneter und kennt das Geschäft des Ringens um Inhalte und Kompromisse aus dem Effeff

Der häufigste Irrtum, mit de ein Kreistagsabgeordneter konfrontiert wird, betrifft die Kompetenz dieses Gremiums. Anders als im Bundes- und im Landtag werden im Kreistag nämlich keinerlei Gesetze beschlossen. Dieser kann die Gesetze und Verordnungen, die Bund und Land erlassen, nur politisch umsetzen. Der Kreistag ist somit wie die Gemeinde- oder Stadtvertretung auf Ortsebene nur das Selbstverwaltungsorgan des jeweiligen Landkreises, von denen es elf in Schleswig-Holstein gibt. Die Kreisverwaltung ist die zuständige Behörde, die den Kreis hauptamtlich verwaltet.

Der Kreistag steuert und kontrolliert die Verwaltung, indem er den Stellenplan beschließt, sämtliche Ausgaben, Zuschüsse und Investitionen im Haushalt festlegt und politische Vorgaben machen kann, worum sich die Verwaltung besonders kümmern soll. Er kann ein Integrationskonzept erlassen, um die steigende Zahl der Migranten in der Bevölkerung besser einzubinden, einen Behindertenbeaufragten schaffen, der die Teilhabe von Menschen mit Handicaps am gesellschaftlichen Leben sicherstellt, die Jugendhilfe und Suchtberatung steuern, die Müllgebühren festlegen, einen Sozialplan für die Kindertagesstätten einrichten.

Einer der erfahrensten Abgeordneten im Pinneberger Kreistag ist Hans-Helmut Birke, 74, den alle nur Hannes nennen. Der SPD-Faktionschef ist gerade mit seinem Fraktionskollegen Dietrich Anders für 40 Jahre Mitgliedschaft im Kreistag geehrt worden. Keiner gehört dem Gremium länger an als der Elmshorner. Seit 1974 wurde Birke, gelernter Sozialpädagoge und ehemaliger Lehrer der Fachoberschule für Erzieher in Altona, zehnmal hintereinander in den Kreistag gewählt. Seit Jahrzehnten ist keine wichtige politische Debatte im Kreistag denkbar, bei der er nicht die Grundposition für die SPD darlegt, der er seit 16 Jahren als Fraktionsvorsitzender vorsteht.

Wenn Birke in die Bütt geht, fliegen oft die Fetzen. Der rhetorisch gewandte Politiker scheut aber auch nicht, mit anderen Fraktionen zusammenzuarbeiten und Bündnisse zu schließen. So schnürte Birke in den 1990er-Jahren wechselnde Haushaltskoalitionen mit der FDP, der CDU und den Grünen. Heute, da es keine klaren Mehrheiten unter den 49 Kreistagsabgeordneten – entsprichend der Anzahl der Städte und Gemeinden im Kreis – gibt, kommt ihm die langjährige Erfahrung und das Verhandlungsgeschick zu Gute, um zum Beispiel rot-grün-gelbe Mehrheiten zu schließen, wie bei der Schaffung eines Behindertenbeauftragten. „Es geht dabei immer um das Ringen um Inhalte“, sagt Birke, der es trotz seiner manchmal polternden Art mit Geschick und Erfahrung immer wieder schafft, seine Fraktion auf Linie zu bringen.

Das ist natürlich kein Selbstläufer. „Ein Fraktionsvorsitzender braucht das Vertrauen seiner Fraktion“, sagt Birke. Das zeige sich nicht nur bei internen Wahlen, die er für sich und Position entscheiden müsse. „Er braucht auch inhaltliche Autorität.“ Darum muss er fachübergreifend bei allen Themen im Film sein. Er braucht nicht jedes Detail zu wissen bei Fragen zu Finanzen, Sozialem, Wirtschaft oder Verkehr – wobei es wohl keinen erfahreneren Finanzexperten im Kreistag als Birke gibt, der jahrelang den Finanzaussschuss geleitet und die fundiertesten Pressekonferenzen mit wichtigen Daten und Ausgabeposititionen abgehalten hat. Ein Fraktionschef muss Generalist sein.

Außerdem müsse er gut vernetzt sein, ohne Animositäten mit allen relevanten Vereinen und Verbänden kommunizieren können und nie konfliktscheu sein, beschreibt Birke die Kernkompetenzen seiner Aufgabe. „Ein Fraktionschef kann nicht Everybody’s Darling sein. Das schließt sich aus.“ Das gelte in alle Richtungen. So müsse er jederzeit erkennen, was er seiner eigenen Fraktion zumuten kann, sagt Birke. Das sei bei interfraktionellen Absprachen mit seinen Kollegen von den anderen Parteien wichtig. Man müsse den Mut und die Fähigkeit zu Kompromissen haben. Wenn er nicht wisse, was geht und was er in der Fraktion durchsetzen könne und was nicht, werde er zum „Grüßonkel, den niemand ernst nimmt, weil er ohnehin allein nichts entscheiden kann und so keine verlässliche Politik garantieren kann“. Und weil sein im kleinen Kreis gesprochenes Wort nicht zählt. Anderen Fraktionen fällt diese Strategie sichtlich schwerer.

Denn die Entscheidungen im Kreistag werden oft interfraktionell auf Fraktionschef-Ebene vorbereitet, wie zum Beispiel der Haushalt für die nächsten zwei Jahre. Dann gibt es für alle Bereiche Ausschüsse, die proporzmäßig die Sitzverteilung im Kreistag widerspiegeln. Hier wird im Detail alles besprochen, sodass im Idealfall auf der Kreistagssitzung selbst nur noch im Ältestenrat, dem alle Fraktionschefs und der Kreispräsident angehören, kurz darüber beraten werden muss. Das wichtigste Gremium neben dem Kreistag ist seit 1998 der Hauptausschuss, der als Dienstvorgesetzter des Landrats fungiert und die Strategie sämtlicher Gesellschaftsbeteiligungen des Kreises Pinneberg festlegt wie gerade bei der Neuausrichtung der Wirtschaftsförderungsgesellschaft WEP.

Die Anforderungen an die Lokalpolitiker seien die gleichen wie ehedem, sagt Birke. Doch die Typen mit Ecken und Kanten, wie er selbst einer ist, sterben langsam aus. „Es gibt heute viel mehr Kieselsteine.“ Sie seien eher angepasst als Rebellen. Dies sei auch eine Entwicklung, die die Mediengesellschaft hervorrufe, die gerne skandalisiere, was der eine oder andere Kollege lieber vermeiden möchte. Außerdem sei es durch die Flut an Informationen schwerer geworden, den politischen Überblick zu behalten, findet Birke.

Gleichwohl macht ihm die Aufgabe und die Arbeit als Kreistagsabgeordneter immer noch Spaß. Drei Stunden am Tag wendet er dafür durchschnittlich auf. Ein Einsatz, den eigentlich nur Rentner wie er betreiben könnten, sagt Birke. Er ist überzeugt davon, dass das politische Engagement der Menschen nicht gesunken ist. Es sei heute nur oft auf bestimmte Einzelinteressen, sogenannte „one-point-movements“, beschränkt, wie die Vielzahl an Bürgerinitiativen zeige.

Ein guter Kreistagsabgeordneter muss eine hohe Frustrationsfähigkeit besitzen. „Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass der politische Handlungsspielraum wächst, nur weil wir über Personal- und Sachkosten entscheiden.“ Denn: „Bei der Kontrolle der Verwaltung ist das Ehrenamt der hauptamtlichen Verwaltung hoffnungslos unterlegen.“ Wenn eine Fraktion in der Opposition ist wie die SPD zehn lange Jahre von 2003 bis 2013, muss der Abgeordnete damit klarkommen, praktisch gar nichts politisch durchsetzen zu können. Das führe dann dazu, so Birke, dass einige Genossen freudestrahlend gejubelt hätten, als endlich wieder ein SPD-Antrag eine Mehrheit im Kreistag fand.