Wedeler Zeitzeugen berichten Schülern von Pogromnacht, dem System des Nationalsozialismus und Kriegserfahrungen

Wedel. Für Friedrich Wilhelm Zabel war es eine Premiere. Auch wenn er manchmal den Faden verlor oder unsicher war, ob er diese Geschichte den Schülern zumuten kann, so hingen die Achtklässler doch eine Stunde lang gebannt an seinen Lippen. Sogar, als die Pausenglocke lange verhallt war, umringten sie ihn und ließen sich Fotos und alte Dokumente zeigen. Zabel ist einer von acht Zeitzeugen, die am Johann-Rist-Gymnasium in Wedel den Schülern von ihren Erlebnissen während der NS-Zeit berichteten. Anlass für das Geschichtsprojekt in Zusammenarbeit mit der Wedeler Zeitzeugenbörse sind die Novemberpogrome, bei denen vor 75 Jahren zahlreiche Juden durch vom nationalsozialistischen Regime gelenkte Übergriffe verletzt oder getötet wurden. Wohnungen, Geschäfte und Synagogen wurden in Brand gesetzt und zerstört.

Der 9. November spielt auch im Leben von Friedrich Wilhelm Zabel eine besondere Rolle, allerdings eher eine freudige. Zum einen hat er an diesem Tag Geburtstag. 91 wurde er am Wochenende. Zum anderen verbindet er mit dem Datum die Deutsche Wiedervereinigung. „Beim Fall der Mauer habe ich vor Freude geweint. 40 Jahre lang hatte ich meine Heimat nicht gesehen“, erinnert sich der Wedeler. Zabel ist gebürtiger Schweriner. Hier in seiner Heimatstadt erlebte er auch die Nacht vom 9. auf den 10. November, die Pogromnacht. Während der gelenkte „Volkshass“ sich seine Opfer suchte, wurde Zabel 16 Jahre alt. Mit ein paar Freunden und der Familie saß er zusammen und bekam von Zerstörungswut selbst nicht viel mit, wie er erläuterte.

Erst am Tag danach machte sich Zabel ein Bild. Auf dem Weg zur Arbeit beim Finanzamt sah er die zerstörte Synagoge. „Ich wusste bis dahin gar nicht, dass es dort eine gab“, so Zabel. Mehr hallte eine andere Zerstörung in seinem Gedächtnis nach. „An der Hauptgeschäftsstraße gab es ein Kaufhaus, das hieß Kychenthal. Es war restlos zertrümmert. Ich konnte mir das nicht erklären“, sagt Zabel. Von seinem Vater wusste er, dass der Betreiber im Ersten Weltkrieg gedient hatte und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde. Für ihn passte das nicht zusammen.

„Es hat mich verwirrt, dass das Hab und Gut von jemandem zerstört wurde, der Werte geschaffen und im Krieg für uns gekämpft hatte.“ Es war das erste Mal, dass Zabel am Regime zweifelte. Ansonsten zeichnete er ein Bild eines Systems, das keine Fragen geschweige denn Gegenwehr zuließ. Ein System, unter dem seine Familie zeitweise litt.

So weigerte sich sein Vater, der im Staatsdienst war, der Partei beizutreten. Er verlor den Job. Ging es der Familie finanziell vorher gut, musste sie in einen Wohnblock für Widerständler umziehen. Die Familie schlug sich ohne Strom und fließend Wasser durch, während Zabel der Hitlerjugend beitrat. „Was für ein absurder Widerspruch“, sagt er heute. Doch das Freizeitangebot hatte es ihm damals angetan. Er wollte im Spielmannszug mitmarschieren. Seine Jugend will er trotzdem nicht missen. Die Zeit in der Hitlerjugend sei schön gewesen. Doch rückblickend verstehe er, dass damals der Grundstein für vieles gelegt wurde. „Alles hatte Methode. Es ging darum, dem Einzelnen das Denken auszutreiben“, so Zabel.

Leon lässt das keine Ruhe. „Haben Sie etwas gegen Hitler oder die Nationalsozialisten versucht zu tun?“, fragt der Schüler. „Was hätte ich tun können? Ich steckte im System. Schon darüber zu reden, dass man mit dem Handeln von Hitler oder den Nationalsozialisten nicht einverstanden ist, war gefährlich und konnte gemeldet werden. Wie sollte man da handeln?“ Ob er Zweifel hatte, will ein Schüler wissen. Ob er sich über den Anschlag auf Hitler gefreut habe, der nächste. Genau dieser Austausch, die Brücke zwischen den Generationen zu schlagen, ist es, was Dorothea Snurawa und ihre Mitreiter von der Wedeler Zeitzeugenbörse antreibt. „Wir wollen das Gespräch zwischen den Älteren und den Jugendlichen fördern“, erklärt sie. In jeder Klasse, die von einem Zeitzeuge besucht wurde, ist auch ein Mitglied der Gruppe dabei. Sie dokumentieren die Berichte, betreuen die freiwilligen Vergangenheitsbewältiger.

Zwei, die Betreuung nicht nötig haben, sind Marianne und Günther Wilke. Die beiden Wedeler werden am Mittwoch den Schülern des Johann-Rist-Gymnasiums von ihren Erfahrungen berichten. Sie sind wohl die erfahrensten Zeitzeugen der Stadt. Seit zehn Jahren sind sie im Geschäft. Bis zu 24 Mal pro Jahr stellen sich die 84-jährige Halbjüdin und ihr 83-jähriger Mann zur Verfügung. So sprach Marianne Wilke kürzlich vor 100 Jugendlichen im ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme und beim Jahrestag der Aktion Sühnezeichen in Berlin. Manchmal gehen die vielen Termine an die Substanz. Doch für die beiden ist es zu einer Lebensaufgabe geworden. „Das ist das sinnvollste, was wir machen können. Wie notwendig es ist, von der Vergangenheit zu berichten, zeigen die NSU-Morde und solche Ereignisse wie in Pinneberg. Es kann nicht sein das jüdisches Leben heute in einem Land, in dem sechs Millionen Juden getötet wurden, hinter Panzerglas stattfinden muss“, sagt Günther Wilke.