Appener Gespräche: Der freie Journalist und Reservesoldat Marco Seliger berichtet in der Marseille-Kaserne über die Schicksale von Bundeswehrangehörigen in Afghanistan.

Appen. Marco Seliger nimmt kein Blatt vor den Mund. Der freie Journalist und Reservesoldat hat den Krieg in Afghanistan hautnah erlebt. Er bezeichnet ihn als einen Krieg, den die Soldaten nicht gewollt hätten, der ihnen von der Politik aber aufgezwungen wurde - mit teils unzumutbaren Rahmenbedingungen. Am Dienstagabend berichtete der Journalist bei den "Appener Gesprächen" in der Marseille-Kaserne über seine Recherchen vor Ort, seine Erfahrungen und das Leid von Soldaten und deren Angehörigen.

"Sterben in Kabul" heißt das Buch, das der 41 Jahre alte Journalist verfasst hat. Ein unbequemes Buch. Denn Seliger schreibt, dass der Einsatz in Afghanistan von einer verlogenen Politik geprägt sei. Und er nennt Beispiele hierfür. Etwa den Tod des Soldaten Mischa Meier 2008. Nachdem es eine Reihe von Angriffen auf Fahrzeuge mittels Bomben und Minen in der Erde gegeben hatte, wurden die Streitkräfte seinen Worten zufolge mit Fahrzeugen ausgestattet, die auch von unten gepanzert waren. ",Niemand fährt mehr mit einem ungepanzerten Wagen', hatte Verteidigungsminister Jung 2008 stolz verkündet. Und dann starb kurz darauf Mischa Meier in einem ungepanzerten Fahrzeug durch eine Bombe", sagt Seliger. Dass das Vertrauen der Soldaten in die Politik durch so etwas erschüttert werde, sei begreiflich.

2009 sprach die Politik in Berlin nach wie vor noch von einem Friedenseinsatz. "Die Soldaten berichteten etwas anderes. Aber ihnen hörte und hört, wie so oft, niemand zu", sagt Seliger. Forderungen der Armee vor Ort nach schweren Waffen seien vom Verteidigungsministerium und dem Generalinspekteur der Bundeswehr zurückgewiesen worden. Das werde nicht benötigt, habe es geheißen. Beim Publikum lösten die Aussagen Seligers ungläubiges Kopfschütteln aus, teils wurde verbittert gelacht angesichts der berichteten Naivität der Bundesregierungen.

Doch Seliger konnte noch Schlimmeres berichten: 2010, als Offensiven gegen die Taliban gestartet wurden, habe den Soldaten vielfach die Munition gefehlt. "Der Nachschub funktionierte nicht, niemand hatte Munitionsdepots angelegt. Niemand hatte in Berlin erwartet, dass so viel geschossen wird. Das erinnert an die Frontberichte der Weltkriege und aus Vietnam", sagt Seliger. Später habe man die Fehlentscheidungen korrigiert. Sie kosteten vermutlich mehreren Soldaten das Leben.

Als Seliger nach dem Fazit seiner Recherchen gefragt wird, ist Verbitterung erkennbar. "55 Soldaten sind bisher gestorben, mehrere Hundert sind verstümmelt, verletzt, dienstunfähig, dauerhaft traumatisiert", sagt Seliger. "Die meisten der Soldaten sind sinnlos gestorben", urteilt er. Dies auch, weil der Einsatz in Afghanistan politisch fragwürdig sei. "Das Gros der Bundesbürger heißt den Krieg nicht gut. Und für die Opfer dieses Krieges, die verletzten und traumatisierten Soldaten, interessiert sich in Deutschland keiner", sagt er. Er fragt sich, ob Soldaten die Sicherheit Deutschlands in 5000 Kilometer Entfernung verteidigen müssen, wenn die Bürger gar nicht verteidigt werden wollten. Diese Frage stellte sich auch das Publikum. Gibt es einen Sinn hinter dem Einsatz? Die Mienen der Gäste - Bürger, Armeeangehörige, Vertreter der Bundes- und Kommunalpolitik -, sie wurden nachdenklich.

Seliger erklärte, dass sich das Land endlich um die Angehörigen der verstorbenen Soldaten sowie die Verletzten und traumatisierten Menschen kümmern müsse. "Fast jeder, der in Afghanistan war, ist verändert zurückgekommen. Die Gesellschaft versteht die Rückkehrer nicht, so wie damals nach den Weltkriegen und Vietnam", sagt er. Die Fehler der Vergangenheit, sie dürften sich nicht wiederholen.