Urteil gesprochen: Richter hat Zweifel, dass Matthias J. für den tödlichen Unfall am 4. Juni 2010 am Bahnübergang in Dauenhof die Schuld trägt.

Westerhorn/Elmshorn. Der Prozess um das Zugunglück von Westerhorn endete mit einem Freispruch. Matthias J., dem verantwortlichen Bahnübergangsposten, war die Erleichterung über das gestern verkündete Urteil des Amtsgerichts Elmshorn anzusehen. Vier Monate und sieben Prozesstage lang hatte sich Richter Jörg Distelmeier mit der Frage befasst, ob ein fahrlässiges Verhalten des Angeklagten den Tod von Rolf E. verschuldet hat. Der 64-Jährige aus Brande-Hörnerkirchen kam am 4. Juni 2010 ums Leben, als sein Renault auf dem Bahnübergang Dauenhof in Westerhorn von einem Regionalexpress mit Tempo 160 erfasst und völlig deformiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Schrankenanlage aufgrund von Bauarbeiten seit 55 Tagen außer Betrieb. Die Sicherung des Bahnübergangs oblag Matthias J., 37, und seinen zwei Hilfsposten, die vor Zugdurchfahrten ein Flatterband spannten.

"Ich halte es für wahrscheinlich, dass der Angeklagte einen Fehler gemacht und den Unfall verschuldet hat. Aber ein ,wahrscheinlich' reicht für eine Verurteilung nicht aus", so Richter Diestelmeier. Er habe mehrere Stunden über den Urteilsspruch gebrütet, so der Jurist. "Und schon die Tatsache, dass ich so lange darüber nachdenken musste, zeigt mir, dass ich nicht verurteilen kann und darf." Dies sei ein typisches Verfahren, wo im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden musste.

Matthias J. hatte in dem Verfahren die Aussage verweigert. In seinem letzten Wort brach er kurz vor der Urteilsverkündung sein Schweigen. "Es tut mir wahnsinnig leid, dass es zu diesem Unfall gekommen ist. Ich habe mir hundertmal gewünscht, das wäre nicht passiert." Unmittelbar nach dem Unglück hatte Matthias J. den Fahrdienstleiter der Bahn angerufen und gefragt, "woher der dritte Zug gekommen ist".

Ob es diesen dritten Zug gab oder eben nicht, war die zentrale Frage des Prozesses. Die beiden Hilfsposten hatten vor Gericht übereinstimmend ausgesagt, dass ihnen Matthias J. nach Rücksprache mit dem Fahrdienstleiter die Durchfahrt von zwei Zügen angezeigt habe. Und die seien auch gekommen - und zwar ein Personen- sowie ein Arbeitszug. Daraufhin sei auf Anweisung von Matthias J. das Flatterband abgenommen worden und der Unfall mit dem Regionalexpress, der als unangekündigter dritter Zug kam, passiert. Mehrere Zeugen sowie ein Sachverständiger hatten demgegenüber bekundet, dass der Arbeitszug bereits eine Stunde früher dort vorbeigefahren sei. Zum Unfallzeitpunkt seien auf diesem Abschnitt lediglich die beiden Personenzüge unterwegs gewesen. Diese Angaben werden durch die technischen Aufzeichnungen der Bahn gestützt.

"Es gibt für mich keinen Anhaltspunkt, dass die beiden Hilfsposten lügen", sagt Richter Diestelmeier. Es sei allerhöchstens denkbar, dass sie "eine für sich günstigere Wirklichkeit zurechtgebastelt haben". Das würde jedoch wiederum bedeuten, "dass nicht nur der Angeklagte, sondern auch die beiden Zeugen nicht bis zwei gezählt haben". Und das könne er sich kaum vorstellen, so der Richter weiter.

Außerdem halte er es für absurd, dass Matthias J. in seinem Telefonat mit dem Fahrdienstleiter, das eine Minute nach dem Unfall stattfand, bereits an einem möglichen Alibi bastelte, als er nach dem dritten Zug fragte. Genau diese Punkte hatte auch Verteidiger Jan Hinsch-Timm in den Mittelpunkt seines Plädoyers gestellt. "Mein Mandant war sich bereits unmittelbar nach dem Unfall sicher, dass es schon zwei Züge gab. Wenn die Tat aber im Sinne der Anklage passiert ist, müssen sich drei Menschen geirrt haben." Sein Fazit: "Hier ist Spielraum für einen Freispruch."

Den sah Staatsanwalt Thorsten Schwarzer nicht. Er hatte für den Matthias J. eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten wegen fahrlässiger Tötung, gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr und gefährlicher Körperverletzung von drei Fahrgästen im Zug gefordert. "Dem Angeklagten ist vorzuwerfen, dass er die Sicherung des Bahnübergangs aufgehoben hat, obwohl von zwei angezeigten Zügen erst einer den Übergang passiert hatte."

Nach Prozessende erklärte der Staatsanwalt, er halte das Urteil für falsch. Schwarzer: "Ich werde jetzt prüfen, ob wir Rechtsmittel einlegen." Zwar nicht auf der Anklagebank, sehr wohl aber am Pranger: die Deutsche Bahn. "Es ist klar, das die provisorische Sicherung des Bahnübergangs viel zu lange bestanden hat", kritisierte Richter Diestelmeier das Verhalten des Unternehmens. Und das "Flatterband-System" habe laut einer Zeugenaussage auch nach dem Unfall weitere zwei Monate angedauert. Der Jurist hält es auch für fragwürdig, dass die Züge den Bahnübergang trotz der nur provisorischen Sicherung mit Tempo 140 bis 160 passieren durften.