Menschen des Jahres: Der Moorreger hat seine Leukämie-Erkrankung gut überstanden. Sein Wunsch: “Alles soll einfach werden wie früher.“

Moorrege. Kevin Krüger ist ein entspannter Typ. Lederjacke, Jeans, Karohemd, ein freundliches Lächeln. Äußerlich unterscheidet den 21-jährigen angehenden Feinwerkmechaniker aus Moorrege nichts von seinen Altersgenossen. Bis auf das auffällige rote Tuch auf seinem Kopf. "Die Haare wachsen noch nicht wieder so richtig", sagt der 1,85-Meter-Schlaks. "Aber an das Tuch habe ich mich gewöhnt."

Überhaupt hat sich der Moorreger augenscheinlich gut erholt. Nur die (noch) etwas spärliche Haarpracht erinnert an den Blutkrebs. Die Krankheit hätte ihn vor einem Jahr beinahe das Leben gekostet . Sein schweres Schicksal bewegte die Menschen weit über den Kreis Pinneberg hinaus. 2676 Menschen standen Anfang Januar 2011 Schlange vor dem Gebäude der freikirchlichen Gemeinde am Pinneberger Fahlt, um ihr Blut typisieren zu lassen und Kevin möglicherweise das Leben zu retten. Die Bürger spendeten fast 25 000 Euro, um diese und andere Typisierungsaktionen zu finanzieren. Es war die bislang größte Aktion dieser Art in der gesamten Region.

Kevin bewegt sie bis heute. "Ich hätte nie gedacht, dass so viele Menschen kommen würden, dass eine ganze Stadt hinter mir steht." Gerade der persönliche Einsatz von Florian Kirsch, dem Chef der Jungen Union Pinneberg, habe ihn beeindruckt. "Ich kannte ihn ja nur über die Junge Union, wir waren nicht eng befreundet." Trotzdem habe Kirsch seinen Urlaub geopfert, um alles zu organisieren, für die Aktion zu werben, Flyer in der Stadt zu verteilen.

Rückblende: Am 10. November 2010 schickte Kevins Hausarzt den jungen Mann im Eiltempo in die Asklepios Klinik Altona. Der Verdacht: akute Leukämie. Potenziell tödlich. Die Hamburger Spezialisten bestätigten den niederschmetternden Verdacht. Wie war die Diagnose damals für Kevin? "Eigentlich hab ich das ziemlich locker genommen, ich wusste ja kaum etwas über Leukämie. Aber für meine Mutter war es schlimm." Krankheit war für den begeisterten Hobbyfußballer, Spezialität defensives Mittelfeld, fast 20 Jahre lang ein Fremdwort gewesen. Zum Arzt war er nur gegangen, weil er sich ungewöhnlich schlapp fühlte.

Informationen über seine Krankheit sammelte Kevin erst, als alles glücklich überstanden war, im Sommer 2011. "Es war vielleicht ganz gut, dass ich erst hinterher wusste, wie knapp es war." Denn die Lage war dramatisch.

Zu Weihnachten 2010 blieben ihm nach Einschätzung der Ärzte nur noch Wochen. In der Zeit vor der Transplantation von Knochenmark, die ihm schließlich das Leben rettet, magerte er von 78 auf 48 Kilogramm ab. Drei Chemotherapien schlugen fehl. Unter 15 Millionen weltweit registrierten Spendern suchten die Ärzte nach einem genetischen Zwilling, dessen Knochenmark gesundes Blut produzieren und Kevin das Leben retten würde.

Kevin surfte im Internet, hielt sich über Facebook auf dem Laufenden, lud sich einmal trotz der langsamen Geschwindigkeit des Übertragungssticks einen ganzen Film herunter. "Den sechsten Harry Potter. Das hat sieben Stunden gedauert." Seine Mutter besuchte ihn jeden Tag. Freunde wollte der Kranke nicht sehen. "Ich wollte keinen Besuch haben, weil es mir nicht gut ging." Dreimal "überfielen" sie ihn trotzdem, unangemeldet. "Ich habe mich dann doch sehr gefreut", bekennt er heute. Zu seinen liebsten Erinnerungen an die schwere Zeit gehört die Sache mit den Cheeseburgern und Energy Drinks. Von diesem Lieblingsessen hatte er seinem Freund Mark Blue vorgeschwärmt. Mark verließ die Klinik gegen 22 Uhr. "So gegen halb zwölf stand er wieder in meinem Zimmer, mit einer riesigen Tüte voll Cheeseburger und Red Bull im Arm."

Denn gesunde Ernährung und Lebensweise sind nicht Kevins Sache. Auch nicht nach der Krankheit bleibt er ein Fan von Fast Food und schläft oft nur vier Stunden. "Ich will nicht wie ein rohes Ei behandelt werden. Alles soll einfach wieder werden wie früher."

Dazu passt die bei aller Dramatik auch skurrile Geschichte, die sich am Rande seiner Transplantation am 28. Januar im Universitätskrankenhaus Eppendorf abspielte. "Das war ja eigentlich ziemlich undramatisch", erinnert sich Kevin. Mit seiner Mutter saß er bei vollem Bewusstsein im Krankenzimmer, während über eine Kanüle das Knochenmark der US-amerikanischen Spenderin in seine Adern tröpfelte. "Wir hatten uns Pizza bestellt." Doch plötzlich spielten die Ärzte verrückt. Kevins Sauerstoffgehalt im Blut war auf lebensbedrohliche 20 Prozent abgesackt. Um die 90 Prozent hätten es eigentlich sein müssen. "Mir ging es aber gut, das konnten die gar nicht glauben", erinnert sich Kevin. Schließlich stellte sich heraus, dass der Monitor defekt war. "Aber die Pizza war kalt."

Gedanken über den Tod habe er sich in den Wochen vor der Transplantation gemacht, nachdem eine Spenderin gefunden worden war. "Da habe ich gedacht: Jetzt wird's ernst und mir das Schlimmste ausgemalt."

Die Sache ging glücklich aus. Am 23. Februar durfte Kevin nach Hause. Ohne Krebs, mit einer neuen Blutgruppe, aber total geschwächt. "Die Treppe hoch zu meinem Zimmer im ersten Stock, das war eine echte Herausforderung." Heute wiegt er immerhin schon wieder 70 Kilo, braucht keine Medikamente mehr und hat seine Ausbildung fast abgeschlossen. Nur Fußball spielen darf er noch nicht wieder.

Sein größter Wunsch? "Ich würde gern mit meiner Lebensretterin Marathon laufen." Denn auch wenn Kevin den Namen der Spenderin nicht kennen darf, so weiß er aus ihrem Brief, dass sie am New York-Marathon teilgenommen hat und dabei für ihn gebetet hat.

Welche Spuren hat die Erfahrung einer lebensbedrohlichen Krankheit bei Kevin hinterlassen? "Eigentlich ist alles wie früher. Ich bleibe vielleicht etwas gelassener." Mit einer Ausnahme: Wenn der FC Bayern verliert. "Dann rege ich mich immer noch auf."