Unser Dorf: Das Abendblatt besuchte die Gemeinde, in der Kinder die Stars sind und der Bürgermeister in der Schule persönlich das Licht ausknipst

Borstel-Hohenraden. Applaus ertönt aus der Manege, während kleine Clowns, Jongleure, Gewichtheber, Magier und Domteure auf ihren Auftritt warten. Neugierig luschern sie durch den Vorhang auf die voll besetzten Ränge. Dort sitzen ihre Eltern, Omas und Opas. Ja, wer nach Borstel-Hohenraden kommt, dem weht die Zirkusluft um die Nase. Zumindest alle vier Jahre. Dann schlägt der Mitmachzirkus Zaretti sein Zelt gleich neben dem Gemeindezentrum auf und die Knirpse der Grundschule verwandeln sich in große Artisten.

Mindestens genauso aufgeregt wie die Kinder, die gleich auftreten, ist auch Uta Heyer, die im Publikum sitzt. Seit zehn Jahren leitet die blonde Frau die Grundschule Borstel-Hohenraden. 114 Kinder werden von ihr und zehn Lehrerinnen betreut. Die gebürtige Pinnebergerin zog vor 14 Jahren aufs Dorf, das nahe an Hamburg liegt und dennoch viel Natur zu bieten hat. Gerne geht die Mutter von zwei Söhnen mit ihren Hunden spazieren, trifft dabei oft Bekannte. Manchmal, so Heyer, fühlt sie sich ein bisschen wie der Papst, der im Auto sitzt und winkend freundliche Gesichter grüßt. Und dass die Schüler am letzten Schultag mit dem Trecker von zu Hause abgeholt und mit einer Sonnenblume verabschiedet werden, das gibt es eben nur auf dem Land. "Die Eltern hier sind sehr engagiert", sagt Heyer. Sie organisieren Weihnachtsbasare oder packen an, wenn der Innenhof umgestaltet werden soll.

Durch die Neubaugebiete ziehen immer wieder junge Eltern nach Borstel-Hohenraden. Als einen idealen Ort für Kinder beschreibt Nicole Piecha Borstel-Hohenraden. Sie leitet den Johanniter-Kindergarten "Pusteblume" gleich neben der Grundschule. "So kann ich die Kinder auch noch aufwachsen sehen, wenn sie eingeschult werden", freut sich die 36-Jährige. Heute sind alle besonders aufgeregt, weil der Zirkus da ist. Das ist fast so toll, als wenn die Feuerwehr ausrückt. Die haben ihr Gerätehaus nämlich gleich nebenan. Dann warten die Knirpse ganz aufgeregt auf ihren Hausmeister Lorenz Groth. Der ist nämlich auch stellvertretender Wehrführer. "Wenn ich vom Einsatz komme, werde ich gleich von den Kindern gelöchert, was passiert ist", sagt er lachend. Die gruseligen Stellen lässt er natürlich weg. Die Feuerwehr dürfte nie Schwierigkeiten bekommen, Nachwuchs zu rekrutieren. 57 Aktive sind derzeit in der Wehr, davon sechs Frauen. In der Jugendfeuerwehr sind sogar zehn der 21 Mitglieder weiblich. Gemeinsam mit anderen Wehren haben sie im vergangenen Jahr auf dem Platz, wo nun der Zirkus steht, das Kreiszeltlager aufgeschlagen und das 20-jährige Bestehen gefeiert. Insgesamt 18 Vereine zählt Borstel-Hohenraden. Der Sportverein TuS ist mit 857 Mitgliedern der größte. Hier wird von Leichtathletik, Fußball und Kindertanzen bis hin zu Yoga alles angeboten. "Die Zusammenarbeit der Vereine ist vorbildlich", lobt TuS-Vorsitzender Uwe Almstadt.

Das bestätigen auch die Jungs von der Flugtechnischen Gemeinschaft, die sich regelmäßig bei gutem Wetter mit ihren Modellflugzeugen am Hanredder treffen. Gerade erst fand hier die 38. internationale deutsche Meisterschaft im Seglerschlepp statt. Am Rande des Flugplatzes campierten Hunderte Besucher. "Ohne die Hilfe der Feuerwehr hätten wir die Meisterschaft nicht durchführen können", sagt Vorsitzender Lothar Wendt. So wie die meisten Vereine haben sich auch die Modellflieger die Jugendförderung auf die Fahne geschrieben. Von den Mitgliedern, derzeit sind es 130, sollen zehn Prozent Jugendliche sein. So steht es in der Satzung. Einer von ihnen ist sein Sohn Ben. Der 15-Jährige fliegt am liebsten Kunstflugzeuge, "wegen der schönen Loopings und Rollen." Historische Segelflugzeuge, Hubschrauber und sogar ein Rasenmäher sausen durch die Luft. Sonnabends zeigen zwei gern, wie es geht. Geschult wird mit Fernsteuerungen im Lehrer-Schüler-Betrieb. Der Fluglehrer kann unmittelbar eingreifen. "Von der Spende, die wir vom Gemeinderat bekommen haben, können wir nun eine zweite Fernsteuerung anschaffen", freut sich Lothar Wendt.

Um Projekte der Jugendarbeit zu fördern, verzichten die Gemeindevertreter auf 40 Prozent ihres Sitzungsgeldes. "Das geht auf ein separates Konto und kommt beispielsweise dem Zeltlagern der Jugendfeuerwehr zugute", sagt Bürgermeister Werner Moeller (SPD). Moeller wohnt gleich neben der Schule. "Wenn einer abends vergisst, das Licht auszumachen, kann ich schnell rüber gehen und es ausknipsen", sagt er. "Ich habe eine große Affinität zur Schule." Vielleicht auch, weil seine beiden Söhne hier zur Schule gingen. Mittlerweile sind die längst erwachsen und selbst Väter. "Die Schule ist der kulturelle Mittelpunkt unseres Dorfes", sagt Moeller. Er prägte den Slogan "Schule geht vor Straße". Doch nachdem die Schule nun umgebaut ist, will er auch den Straßenausbau in Angriff nehmen.

Eine Vorliebe für große Auftritte haben nicht nur die kleinen Borstel-Hohenradener, sondern auch Günter Kuhn. Der 72-Jährige ist Spielleiter und Regisseur der 1979 gegründeten Theatergruppe Bossel-Hogenfiedel. Entstanden ist der Verein nach einem Erntedankfest. "Da haben wir ,Weber ward kureert' aufgeführt", sagt Kuhn. Er selbst spielte Weber, den eingebildeten Kranken. Das Publikum war begeistert, der Theaterverein gegründet. 140 Mitglieder zählt die Theatergruppe heute. "Neben den Schauspielern haben wir Bühnenbauer, Leute, die sich um die Werbung kümmern, Tontechniker", sagt Kuhn. Neben dem Weihnachtsmärchen werden jedes Jahr zwei weitere Stücke aufgeführt - up Platt und auf Hochdeutsch. Auf seinem Dachboden bewahrt er einen Fundus an Kostümen und Requisiten. Viele Kostüme hat Silke Krohn genäht. Sie stieß 1983 zu den Bossel-Hogenfiedelern. Im vergangenen Jahr verbrachte die 63-Jährige rund 50 Stunden damit, Kostüme zu nähen, Schneemannnasen zu basteln und die "Theaddergörn" zu vermessen, die die Weihnachtsmärchen aufführen. "Jung und Alt arbeiten einfach am besten zusammen", sagt Kuhn. "Theater formt den Menschen. Hier lernt er das Miteinander. Wenn ein Zahn fehlt, würde sich das Rad nicht mehr drehen."

Dass sich die Räder der Trecker in Borstel-Hohenraden, in dem es seit Jahren kaum noch Landwirtschaft gibt, drehen, dafür sorgen Joachim Becker und Rolf Latusseck vom Heimatverein. Beim 50-jährigen Bestehen des Heimatverbandes des Kreises wollen sie mit den alten landwirtschaftlichen Geräten vorfahren und ihr Dorf repräsentieren. "Zum Glück gibt es Nostalgiker, die alles zusammentragen, was alt ist", sagt der Vorsitzende Joachim Becker. Mit dem Fundus der "Interessengemeinschaft Alte Landmaschinen" organisiert der Heimatverein Ausstellungen von Dresch- und Erntemaschinen, mit denen die Großväter ihre Äcker bestellten. Der 1988 gegründete Verein ist klein (36 Mitglieder), aber rührig. Es werden Ausfahrten und Abende mit Irischer Folklore im Gasthof organisiert. "Wir arbeiten eng mit Schule und Kindergarten zusammen", sagt der stellvertretende Vorsitzende Rolf Latusseck. Mit den Grundschülern werden Kartoffeln gepflanzt und geerntet. Wenn der Zirkus weiterzieht, werden sie den Acker für die Erdäpfel vorbereiten.