Unser Dorf: Seester wuppt den Spagat zwischen Naturidylle und lebendigem Dorfleben. 27 Bauplätze sollen junge Familien locken

Seester. Sie hat Fluten, Stürmen und kriegerischen Schweden widerstanden: Die Kirche, 1428 geweiht, ist das ältestes Gebäude der Gemeinde - und ihr Herzstück. Welche Geheimnisse sich hinter den himmelblau gestrichenen Flügeltüren verbergen, das weiß kaum jemand besser als Joachim Senk, 74. Die Kritzeleien der gelangweilten Konfirmanden am Blasebalghaus unterm Dach der Kirche zum Beispiel. Bis 1954 war die Dorfjugend nämlich für den Orgelwind zuständig. Oder die kuriose Tatsache, dass der Dachreiter zwar vier Seiten, aber nur drei Zifferblätter hat. Und natürlich das Uhrenhaus, in dem die Zahnräder der Kirchenuhr sich seit der Renovierung des damals fast abrissreifen Gotteshauses 1895 zuverlässig drehen. "Einmal pro Woche zieht jemand vom Kirchenvorstand sie auf, das geht reihum."

Fast liebevoll streichen seine Hände über den Opferstock, den die Seesteraner Bauern 1613 von Handwerkern des Klosters Uetersen anfertigen ließen - und den die schwedischen Heere im 30-jährigen Krieg 1628 trotz der tresorartigen Sicherungen knackten. Bewunderung für die zähen Marschbewohner schwingt in seiner Stimme mit, wenn Senk beschreibt, wie die Bauernfamilien Bartels, Schinkel, Greve und Kelten nach dieser Beinahe-Zerstörung ihres Gotteshauses 1631 für einen neuen Altar zusammenlegten. "Er gehört zu den ältesten frühbarocken Altären in Holstein."

Dabei ist der frühere Kaufmann nach Marsch-Maßstäben selbst nach mehr als 20 Seesteraner Jahren ein Neubürger. An einem trüben Novembertag 1987 verliebte er sich in die "wunderschöne Stimmung" auf dem Grundstück neben der Kirche, kaufte und renovierte die Kate. Hat er den Schritt von der Stadt aufs platte Land je bereut? Er lacht: "Nie." Die große Mehrheit der Einwohner habe ihn und seine Frau sehr offen und freundlich aufgenommen, keine Spur vom Klischee des unzugänglichen Deichmenschen. "Die einmalige Lage vor dem Krückaudeich, der Blick auf die weiten Felder - da ist Seester wunderschön. Und in 40 Minuten sind wir mitten in Hamburg. Wir vermissen das Stadtleben nicht."

Die Weite der Marsch vor der Haustür, aber in fünf Minuten in Elmshorn

Da ist der "Neubürger" sich mit den anderen 948 Einwohnern von Groß Sonnendeich, Klein Sonnendeich, Kurzenmoor, Finkenburg, Seesteraudeich und Seester - aus diesen Ortsteilen setzt die Gemeinde im äußersten Nordwestzipfel des Kreises Pinneberg sich zusammen - einig. "Wir haben hier alles, und mehr brauche ich nicht", stellt Harald Piening, 52, Seesteraner Schmiedemeister wie schon Vater, Groß- und Urgroßvater, klar. Bootshaken, Tore und Schiffszubehör schmiedet er auf demselben Amboss und in derselben Schmiede wie sein Urgroßvater. In seiner Freizeit lässt er auf dem 1400 Grad heißen Kohlenfeuer seiner Esse seiner Kreativität freien Lauf, schmiedet Elche, Spinnennetze, Skulpturen. Für den leidenschaftlichen Jäger, Angler und Schipper zählt die Weite der Natur, die die Höfe, denkmalgeschützten Reetdachkaten und neueren Häuser seines Heimatdorfs umschließt, mehr als die Tatsache, dass weder Seester weder Kaufladen noch Wirtshaus aufweist.

"Aber in fünf Minuten ist man mit dem Auto zum Einkaufen in Elmshorn, und dreimal pro Woche kommt ein rollender Tante-Emma-Laden in den Ort", betont Bürgermeister Claus Hell, 64. Er wurde in Kurzenmoor geboren, führte den Hof seiner Eltern bis vor 22 Jahren fort und macht seit 30 Jahren Kommunalpolitik für die seit dem Krieg ununterbrochen herrschende CDU.

Das Dorf sei zwar schön und eine Augenweide für die Städter, die hier Ruhe und Erholung suchen. Aber trotz einer beachtlichen Reihe denkmalgeschützter Reetdachkaten und Höfe kein Museumsdorf. "Wir sind sehr lebendig. Wir wollen das Althergebrachte erhalten und gleichzeitig für junge Leute attraktiv sein."

Damit das so bleibt, unterstützen er und der Gemeinderat eine familienfreundliche Infrastruktur. Mit Kindergarten, der eine Betreuung von 7.30 Uhr bis 15 Uhr anbietet, und eigener Grundschule. Zur Verjüngung der Idylle hinterm Krückaudeich soll ganz besonders das frisch erschlossene Baugebiet beitragen: 27 Grundstücke nah am Seesteraner Ortskern. "Wir brauchen junge Familien, damit die Schule im Dorf bleibt." Fällt die Zahl der Eleven nämlich unter 80, droht die Schließung der Zwergschule. Mit aktuell 83 Kindern liegt die Zahl kaum über dieser Marke. Da kamen die Kinder aus Neuendeich gerade recht, die seit dem 1. August statt in Uetersen in Seester die Schulbank drücken. Diese Knirpse lässt der Schulverband extra per Sammeltaxi abholen und nach Hause bringen. Schulleiterin Nadine Hahn, 35, selbst Zögling einer Zwergschule und bekennender Kleinschulfan, liebt die Arbeit unter Dorfbedingungen: "Es ist sehr familiär, man kennt alle. Das Netzwerk unter den Familien ist sehr eng und die Eltern unterstützen das Schulleben sehr engagiert." Sie backen und kochen für Feste, bieten den Kindern eine Vielfalt an Arbeitsgemeinschaften an, zum Beispiel Handarbeiten, Theater, Plattdeutsch und PC.

Gleich neben der in den 50er Jahren erbauten und mehrfach erweiterten Schule sorgen Kindergartenchefin Silke Hofrichter, 50, und ihr Team dafür, dass der Nachwuchs bestens vorbereitet auf die Schulbank wechselt. "Die Kinder sollen sich bei uns wohlfühlen, ihre ländliche Welt erleben und ihre Fähigkeiten entdecken", umschreibt sie das Konzept der evangelischen Einrichtung. Untergebracht sind die 32 Kinder zwischen null und sechs Jahren nicht etwa in einem gesichtslosen Neubau, sondern - standesgemäß - in einem geschichtsträchtigen Backsteinbau. "Hier waren früher der Kaufmann und die Gastwirtschaft des Ortes zuhause", erläutert Bürgermeister Hell.

Die Einrichtung geht mit der Zeit und den Bedürfnissen berufstätiger Familien. Deshalb betreuen Hofrichterund Co. seit dem 1. August erstmals auch Kinder unter drei Jahren.

Während die Kleinsten noch krabbelnd die Welt der Schulturnhalle erkunden, übernehmen die Kindergarten-Veteranen - also die, die im kommenden August eingeschult werden sollen -, schon viel Verantwortung für ihr kurzbeiniges Gemeinwesen: Zahnpasta an alle verteilen, Tische abwischen, Teller abräumen, Abfall nach Wertstoffen, Bio und Restmüll sortieren - das übernehmen die Großen.

Auch das Seesteraner Freizeitprogramm für den Nachwuchs kann sich sehen lassen. Ganz vorn in der Gunst der Kinder - und zahlreicher Eltern - steht Sport. Fast jeder dritte Einwohner Seesters und des südwestlichen Nachbarn Seestermühes engagiert sich beim TSV Seestermüher Marsch. Der Verein, den Jürgen Pliquet leitet, zählt 620 Mitglieder und verbindet die Dörfer in der Marsch. Rund 20 Jugendliche angeln im Verein, sechs Heranwachsende engagieren sich bei der Jugendfeuerwehr. Wehrführer Hermann Stieler fördert die Jugendarbeit. Schließlich werden die Brandbekämpfer gerade in einem Ort voller Reetdächer dringend gebraucht - auch wenn die 43 Aktiven auch oft zu Verkehrsunfällen oder als technische Helfer gerufen werden.

Der klassische Seesteraner, egal aus welchem der sechs Ortsteile er stammt, hängt offenkundig an seiner Heimat. Das beweist die Tatsache, dass wenige Familiennamen wie Karp, Hell und Riedel den Ort prägen. Ob Schmied Piening, Dachdeckermeister Hermann Suhr, 48, Anglerchef Jonny Karp, 50, Tierarzt Helmut Hell oder Hafenchef Rolf Riedel, 58: Sie alle blicken auf eine lange Familientradition in der Marsch zurück. Viele stammen von den Holländern ab, die vor Jahrhunderten als Deichbau-Experten an die Krückau geholt wurden. Der tideabhängige Fluss hieß damals übrigens noch Seesterau.

Der Fischerhafen diente den Kindern früher als Abenteuerspielplatz

Das Dorf verlassen? Für die meisten Ur-Einwohner ein Unding. "Die Wurzeln sind halt da, die Frage stellte sich eigentlich nie", antwortet Karp. Er führte zwar nicht die Fischertradition seiner Familie fort, lebt aber in seinem Elternhaus direkt hinterm Krückaudeich. "Bei der großen Sturmflut 1962 stand das Wasser bis an die Deichkrone", erinnert er sich. Bis zum Bau des Elbsperrwerks seien Sturmfluten in Seester an der Tagesordnung gewesen. "Wir saßen dann auf gepackten Koffern, das gehörte für uns zur Normalität."

Auch Riedel, als Vorsitzender der Interessengemeinschaft der Bootseigner zuständig für die Pflege des ehemaligen Fischerhafens, schüttelt sich bei der Erinnerung an die zwei Jahre, während derer er in Wedel gewohnt habe. "Hier ist einfach der schönste Ort der Welt", sagt er und glaubt, für alle im Dorf zu sprechen. Das Wasser, die Weite, die Ruhe, die Natur - wenn man in der Abendsonne an Riedels Lieblingsplatz im beschaulichen Hafen steht, versteht man das Heimweh der "ausgebürgerten" Seesteraner sofort. "Früher war der Hafen mit den Fischkuttern unser Abenteuerspielplatz."

Auch Tierarzt Hell, nicht verwandt mit Bürgermeister Claus und dessen Vorgänger Uwe Hell, verließ seinen Geburtsort nur fürs Studium in Hannover. Auf dem Hof seiner Großeltern führt er heute die Praxis seines Vaters fort. Seine Pferdeklinik genießt unter den Profis einen guten Ruf, Reitsportstars wie Herbert Blöcker, Inken Johannsen und Sören von Rönne vertrauen ihm ihre wertvollen Warmblüter an. Die Veterinärtradition setzt Sohn Heiko zwar nicht fort. Dafür aber nahm der Filius an zwei Mal an den Olympischen Spielen teil. In Athen und Sydney vertrat der als Schwimmer Deutschland. Und kehrte sofort nach Seester zurück, genießt jetzt als zweifacher Familienvater die direkte Nachbarschaft zu den Eltern.