Unser Dorf: 700 Einwohner in der Gemeinde an der Grenze zur Marsch pochen auf ihre Unabhängigkeit und halten den Gemeinschaftssinn hoch

Groß Nordende. "Hier muss das heilige Land sein", dachte Ingrid Steensen. Als sie 1963 frisch nach ihrem Lehramtsstudium in Groß Nordende anrief, um sich als neue Lehrerin der Volksschule vorzustellen, sprach sie mit Bürgermeister Ochs. Der erzählte ihr von 400 Seelen im Ort und dass der Schulleiter ein Herr Heiland sei. "Das kann nur heiliges Land sein", glaubte Steensen und fuhr frohen Mutes nach Groß Nordende, um mit Leib und Seele Grundschullehrerin zu sein.

Nach elf Jahren war diese Episode zwar vorbei. Die Grundschule in Groß Nordende wurde geschlossen und nur bis Ende der 1970er Jahre als Sonderschule weitergeführt. Ingrid Steensen wurde dann Konrektorin an der Friedrich-Ebert-Schule in Uetersen, wo die Kinder aus Groß Nordende fortan eingeschult wurden. In der alten Dorfschule wohnt die 75-Jährige noch immer. Seit fast 50 Jahren ist die alte Dienstwohnung ihr Zuhause.

Mit rund 700 Einwohnern gehört Groß Nordende zu den zehn kleinsten Dörfern im Kreis Pinneberg. Rein sprachlich scheint hier an der Grenze zwischen Marsch und Geest die Welt zu "Ende" zu sein. Im Süden ist die Stadt Uetersen, der Name "das äußerste Ende" bedeutet. Im Norden direkt hinter dem Kreisel an der B 431 fängt Klein Nordende an, das aber viermal größer ist als das Große Nordende. Die Häuser sind fast alle um die Dorfstraße angesiedelt, die die Hauptverkehrsstraße zwischen Elmshorn und Uetersen und stark befahren ist. Diese Lebensader, die zum alten Ochsenweg von Flensburg nach Wedel gehört, ist auch im Wappen von Groß Nordende enthalten. In den holsteinischen Farben rot und weiß zieht sich die Dorfstraße als langer Streifen diagonal durch das Wappen und teilt ein Wagenrad auf gelbem Geest-Grund und ein typischen Bauernhaus auf grünem Marschgrund, erklärt Ute Ehmke.

Die 54 Jahre alte Gemeindevertreterin der Gemeinschaft unabhängiger Bürger (GUB) ist seit 2008 Bürgermeisterin von Groß Nordende. Als erste Frau in diesem Amt. Einer Frauenquote bedarf es hier nicht. Vier der neun Gemeinderäte sind weiblich. Es gibt nur zwei Fraktionen im Rat. Beides sind Wählergemeinschaften, die etablierten Parteien haben hier nichts zu sagen.

Keine Kirche, keine Kneipe, kein Lebensmittelladen und auch keine Schule mehr - "eigentlich sind wir kein richtiges Dorf", schmunzelt Ute Ehmke. Aber das meint sie natürlich nicht im Ernst. Im Gegenteil. Der große Zusammenhalt im Ort und die Bereitschaft, freiwillig mit anzupacken und ehrenamtliche Aufgaben für die Gemeinschaft zu übernehmen, wiegt alles andere auf, freut sich Ute Ehmke. "Wir sind zwar eine schuldenfreie Gemeinde.

Aber auch mit einem ausgeglichenen 860 000 Euro-Haushalt können wir keine großen Sprünge machen." Und so forderte sie Anfang des Jahres ihre Mitbürger auf, den Garten vor der alten Schule, die heute für Ratssitzungen und Bürgermeisterin-Sprechstunden genutzt wird, umzugestalten. Das stieß auf offene Ohren. Mit vereinten Kräften war es schnell geschafft.

Auch sonst wird der Gemeinschaftssinn im Dorf hoch gehalten. Acht Mütter und Väter wechseln sich im wöchentlichen Rhythmus ab, die rund 20 Kinder und Jugendlichen des Dorfes zu betreuen, die jeden Freitag von 17 bis 22 Uhr in die alte Feuerwache hinter der Schule kommen, die zum Jugendraum mit Kicker, Fernseher, Billardtisch und gemütlicher Sitzecke umfunktioniert worden ist. Das alte Toilettenhaus der Schule daneben ist mit viel Liebe wieder hergerichtet und renoviert worden. Und das Dorfgemeinschaftshaus, in dem sich die Vereine und Gymnastikgruppen treffen, wird mit dieser Eigeninitiative instand gehalten.

Auch die Betreuung der kleinsten Groß Nordender ist sichergestellt. Ein Kindergarten versorgt zurzeit 14 Kinder im Alter ab zwei Jahren. Aus Kosten- und Platzgründen leider nur am Vormittag, bedauert Bürgermeisterin Ehmke. "Einen Mittagstisch können wir uns nicht leisten."

Aber niemals werde sich das Dorf von einem größeren Nachbarn vereinnahmen lassen, betont sie. "Wir wollen auf keinen Fall unsere Unabhängigkeit verlieren", versichert sie und erteilt Gedanken, wie sie Nachbarbürgermeister Roland Krügel aus Tornesch formulierte, eine klare Absage. Der hatte vorgeschlagen, die Ämter abzuschaffen und die kleinen Orte künftig von den Nachbarstädten verwalten zu lassen. "Wir fühlen uns im Amt Moorrege wohl und wollen da bleiben", betont Ute Ehmke.

Unterstützung erhält sie dabei von einem ihrer Amtsvorgänger, der selber als Bürgermeister von Uetersen die Verwaltung der zum Amt Haseldorf gehörenden Gemeinden eingefädelt hatte. "Für Haseldorf machte das Sinn. Die wollten das. Wir in Groß Nordende sind uns einig, dass wir unabhängig bleiben wollen", sagt der "Doppel-a.D.-Bürgermeister" Wolfgang Wiech. Der 58-Jährige, vor drei Jahren von den Wählern in Uetersen aufs Altenteil geschickt wurde, hat längst mit dieser Niederlage abgeschlossen. Wiech macht jetzt auf Landwirt in seinem geliebten Groß Nordende, züchtet Hühner und Schafe und restauriert einen alten Deutz-Schlepper aus dem Jahre 1958.

Zum Unabhängigkeitsstreben des Dorfes passt das Projekt Norvik, das der Erzieher Morten Bauer vor neun Jahren ins Leben rief. Auf einer Fläche direkt hinter dem Dorfgemeinschaftshaus entsteht mehrmals im Jahr ein echtes Wikinger-Dorf. Bauer führt Schulklassen, bei der Aktion Ferienpass vom Kreisjugendring und Kindergeburtstagen in die Lebenswelt der Wikinger ein. Sie übernachten in Wikingerzelten, spiele uralte Spiele, schmieden heiße Eisen, werfen Äxte und schießen Pfeil und Bogen. "Das macht den Kinder unheimlich viel Spaß", erzählt der Experte des frühen Mittelalters, der bundesweit zu Wikingertreffen fährt. "Aber bei Kindergeburtstagen sind es oft die Väter, die davon fasziniert sind."

Das Problem mit der fehlenden Kneipe im Dorf ist inzwischen gelöst. Der gelernte Baumschuler Jürgen Käckenhoff hat vor sieben Jahren das Bauern-Café Plantenhoff im umgebauten Kuhstall des Hofes seiner Eltern aufgemacht. Jeden Tag von 14 bis 18 Uhr ist es geöffnet und lädt Touristen, Radfahrer und Dorfbewohner zu Kaffee, Kuchen und neun verschiedenen Torten ein. Ganze Busladungen an Tagestouristen schauten bei ihm vorbei, erzählt Käckenhoff, der in diesem Gebäude im April 1963 geboren wurde. Feierlichkeiten würden hier auch veranstaltet. Eine Bierzapfanlage sei dafür eigens installiert worden. Doch die Dorfbewohner schauten eher selten vorbei, wundert sich der Wirt. "Vielleicht haben Sie Angst, dass sie zum Dorfgespräch werden." Das sei früher anders gewesen, als es noch drei Gaststätten in Groß Nordende gab. Die junge Generation hat das Bauerncafé zu ihrem Treffpunkt erkoren. "Die Jugendlichen kommen zum Klönen und Schnacken", berichtet Käckenhoff. Er passe schon auf, dass da keiner über die Strenge schlägt.