Unser Dorf: Bürger lieben das Vereinsleben, pflegen die Bandreißerkultur ihrer Vorfahren und knüpfen unternehmerische Kontakte in der ganzen Welt

Hetlingen. Schlafdorf? Denkste! "Also, wer hier herzieht und nichts findet, woran er Spaß hat, der ist selbst schuld." Jonny Wrage bringt das Freizeitangebot in Hetlingen auf den Punkt. Er muss es wissen, denn er ist hier vor 83 Jahren geboren, und gelangweilt hat er sich seitdem nie. Sport- und Gesangverein, Tanzgruppe und Bandreißer, Wassersportler und Laienspieler, DRK, Reiter, Kinderchor, Unternehmerverband, "Plattdütscher Krink" und die Parteien - über mangelnde Vielfalt an Möglichkeiten, ihre Zeit sinnvoll zu verbringen, können sich die 1340 Bürgerinnen und Bürger der Marschgemeinde nun wirklich nicht beklagen.

Dieses bunte Dorf-Leben, die Ruhe einerseits bei relativer Nähe zur Metropole Hamburg andererseits, dazu eine Landschaft, die nicht nur bei Sonnenschein ihre Reize hat - das ist die Mischung, die die Gemeinde attraktiv macht und Ortsfremde begeistert, "aufs Dorf" zu ziehen.

Und manchmal wird man dann dort sogar Bürgermeisterin wie Barbara Ostmeier (50). "Ich bin mit meiner Familie vor gut 15 Jahren hier her gezogen, weil ich in Erwartung unseres vierten Kindes unbedingt auf dem Lande wohnen wollte. Besonders beeindruckt hat uns beim ersten Besuch in Hetlingen ein Spaziergang auf dem Deich. Damals fuhren wir regelmäßig auf die Insel Langeoog und wir fanden: Das ist hier ein bisschen wie im Urlaub dort, die Schafe, der Deich und der Blick auf die drei dicken Reetdachdächer dahinter", verrät die Christdemokratin.

Die Bedürfnisse von Familien stehen bei der Erschließung neuer Baugebiete im Vordergrund. Deshalb kämpft sie wie eine Löwin, dass Kindergarten und Schule erhalten bleiben. Alle Fraktionen stehen an ihrer Seite, wenn es gilt, dem gefährlichen demografischen Wandel entgegenzuwirken. .

Die "zugereiste" Bürgermeisterin Ostmeier ist mittlerweile ebenso überzeugte Hetlingerin wie Jonny Wrage, Reinhard Plüschau und die anderen acht Männer der Bandreißer-Gruppe im Kulturverein. Sie sind damit die Letzten ihrer Art im gesamten norddeutschen Raum und für Feste und Veranstaltungen mit musealem Flair heiß begehrt - und betätigen sich damit als sympathische Botschafter Hetlingens. Von Flensburg bis Berlin bis Wilhelmshaven führen sie vor, wie man aus Weidenruten "Stöcke bastelt" und daraus Reifen biegt, die die Dauben von Holzfässern zusammenhalten. Mit dem Siegeszug der Plastikverpackungen und Pappkartons brauchte man keine Butterfässer mehr - 1991 meldete Artur Koopmann, der letzte professionelle Bandreißer sein Gewerbe ab. Das Bandreißen lebt seitdem als Traditionspflege fort und als Titel für einen Schreit-Tanz des Heimatvereins.

Die Hetlinger Deerns trainieren für die nächste Tanzshow in Wedel

Gleich um einige Stufen flotter geht es zu, wenn Sabine Plüschau (49) und ihre Freundinnen zur Tanz-Show bitten. Denn sie sind die "Hetlinger Deerns". Die aus der Aerobic-Welle der 80er-Jahre hervorgegangene Formation hat sich mit turbulenten Tanz-Vorführungen eine Fan-Gemeinde weit über die Dorfgrenze hinaus erobert. Anderthalb Jahre lang wird zwei Mal pro Woche die Choreografie erarbeitet, Kostüme werden entworfen und selbst genäht - dann bitten die 18 Frauen zu Vorstellungen, die traditionell im Saal der Wedeler Barlach-Schule veranstaltet werden. Im Herbst ist es so weit, der Vorverkauf beginnt im August, und man sollte schnell zugreifen, weil die acht Vorstellungen rasch ausverkauft sind. Was ist das Besondere an den Deerns und Hetlingen? Sabine Plüschau: "Es ist nicht nur der Sport, sondern wir halten zusammen und helfen einander."

Engagement für die Gemeinschaft, Unterstützung, wenn es not tut - das wird in Hetlingen nicht allein in Sonntagsreden gepredigt, sondern auch in ernsten Situationen gelebt. So wie damals, am 3. Januar 1976, und in den folgenden Wochen. Seinerzeit schlug das Schicksal heftig zu: Eine Sturmflut ließ die Deiche brechen, der "blanke Hans" ergoss sich in viele Häuser und verwandelte das Dorf in eine Wasserwüste.

Und die Hetlinger standen Schulter an Schulter auf dem ruinierten Deich und schaufelten bis zur Erschöpfung Sandsäcke voll, um die klaffenden Lücken im schützenden Bollwerk zu schließen!

Weniger dramatisch, aber bestimmt nicht minder bedeutend sind die Aktivitäten beispielsweise von Finja, Andrea und Reiner Plüschau. Finja und ihre Eltern sind nur drei von vielen, vielen guten Beispielen, ehrenamtlich tätig zu sein. Reiner Plüschau (48) ist Fußballtrainer im "Hetlinger Männerturnverein" (HMTV), dem selbstverständlich trotz des verstaubten Namens auch Frauen angehören dürfen - wie an "seiner" Andrea (46) zu erkennen ist, die seit Jahren die Geräte-Turn-Mädchen trainiert, und Tochter Finja (19), die ebenfalls als Übungsleiterin aktiv ist und überdies Stunden für die Arbeit als Jugendwartin dran gibt. Warum opfert man seine Freizeit? Bei allen dreien die gleiche Antwort: "Es macht Spaß, etwas für die Gemeinschaft zu tun."

"Es macht Spaß, etwas für die Gemeinschaft zu tun", sagt auch Dieter Wahlers (48). Er tut seinen Dienst für die Allgemeinheit auf gleich mehrere Arten: in der Uniform eines Oberlöschmeisters der Freiwilligen Feuerwehr und als Platzwart mit dem Mäh-Trecker auf dem Fußballfeld. Im Sommer düst er drei Mal die Woche mit dem Rasenmäher übers Grün - 40 Mal hin und 40 Mal zurück. Seine Freunde aus der Kindheit begleiten ihn durchs Leben. "Das ist, was Gemeinschaft ausmacht." Hetlingen war, ist und bleibt sein Lebensmittelpunkt. Seine Arbeit hat er ebenfalls im Dorf: "auf dem Klärwerk".

"Rund zehn Prozent unserer Mitarbeiter kommen aus Hetlingen", sagt Lutz Altenwerth, Leiter der Anlage, die mit 240 Beschäftigten größter Arbeitgeber im Ort ist. Die anderen Kollegen stammen aus den Orten drum herum. Nicht immer war das Verhältnis zwischen Gemeinde und Klärwerk einfach. In den 70er-Jahren wurde wegen Belästigung durch Gestank sogar Klage geführt, 2009 gab es erneut Probleme. Aber der AZV ist nicht untätig. "Im August werden neue Biofilter in Betrieb genommen. Wir investieren ständig, um die Anlage zu verbessern. 15 Millionen Euro pro Jahr", sagt Altenwerth.

Um etwas kleinere Summen geht es bei Sandra Mohr. Sie lächelt hinter dem Panzerglas der Raiffeisenbank hervor. Zwei Mal die Woche können Hetlinger ihre Transaktionen erledigen. Wie viel Geld liegt im Tresor? Sandra Mohrs Lächeln wird noch eine Spur charmanter, aber sie schweigt. "Rein betriebswirtschaftlich betrachtet, ist die Filiale problematisch. Aber wir arbeiten nicht mit dem Ziel der Gewinnmaximierung, sondern sind für die Gemeinschaft unserer Mitglieder da", sagen die Vorstände Thorsten Wölm und Sönke Hahn. Deshalb haben die beiden auch beim Thema Sponsoring stets ein offenes Ohr wie jetzt beim Fußball-Turnier.

Im Friseurladen gibt es flotte Schnitte und einen gepflegten Schnack

Das andere Ladengeschäft im Dorf heißt "Schnitt Schnack" und gehört Tina Richter. Sie ist Friseurin, arbeitete zuletzt in Wedel, wo sie viele Kunden aus Hetlingen bediente, und schon ihr Opa schnitt den Hetlingern die Haare.

War der Ort zu seinen Zeiten noch stark landwirtschaftlich geprägt, so ist das mittlerweile anders. Zwar gibt es noch Höfe wie die Hetlinger Schanze von Michael und Silke Körner mit Hunderten von Schafen und Rindern, zwar hat auch Dierk Groth (55) am Grünen Damm noch einige Ammenkühe und Mutterschafe, doch sein Schwerpunkt ist längst die Pferdewirtschaft. 15 eigene und 30 Pensionspferde stehen auf seinem Hof: "Wir haben mit der Kombination von Aufzucht, Ausbildung und Pension eine Nische gefunden."

Auch Jens Seiferts (54) Vater betrieb noch Obstbau und Schafzucht. Der Strukturwandel sorgte für einen Umbruch. Im ehemaligen Schweinestall montieren der Elektroingenieur und sein vierköpfiges Team Schaltanlagen insbesondere für die Farbenindustrie. In aller Welt wird seine Automatisierungstechnik eingesetzt. Seifert ist oft unterwegs, um Anlagen in Betrieb zu nehmen, hat viele schöne Ecken kennengelernt. Aber er sagt: "Manchmal wünscht man sich vielleicht, woanders zu leben. Aber wenn ich sechs Wochen woanders war, bin ich immer glücklich wieder zu Hause zu sein. Hetlingen ist meine Heimat."