Flucht aufs Dach: So erlebten Menschen aus dem Kreis Pinneberg die Ereignisse vom 17. Februar 1962 in Hamburg-Wilhelmsburg.

Hamburg/Bönningstedt/ Ellerau/Halstenbek. Die Ereignisse sind 50 Jahre her. Doch die Erinnerung ist taufrisch. "Wir standen auf dem Dach in klitschnassen Pyjamas. Wir froren erbärmlich. Das Tosen des Sturms vermischte sich mit den Schreien von Menschen und dem Blöken von Kühen. Unsere Nachbarin Frau Lenz rief immer wieder: 'Mein Mann ist tot!' Ich weiß es noch bis heute." Wolfgang Wien war 13, als seine Wilhelmsburger Heimat bei der Sturmflut am 17. Februar 1962 in einer einzigen Nacht unterging. Heute lebt er in Ellerau, in sicherer Entfernung zur Elbe.

Gemeinsam mit seinem Bruder Bernd, damals 11, hatte er sich durch die Dachluke seines Elternhauses an der Peter-Beenck-Straße aus den Wassermassen gerettet, die zu der Zeit bereits brusthoch im Haus standen und schließlich bis an die Zimmerdecke stiegen.

+++ Als Uetersen unter Wasser stand +++

Im Grunde war es Wolfgang Wiens volle Blase, die ihm, seiner Mutter und den drei jüngeren Geschwistern damals das Leben rettete. "Gegen 4.30 Uhr wachte ich auf, aber nicht wegen des Sturms, sondern schlicht und einfach deshalb, weil ich zum Klo musste", sagt Wien. Als er die Füße auf den Boden stellen wollte, erschrak er: Das Wasser stand zehn Zentimeter hoch im Kinderzimmer. "Ich dachte erst an einen Rohrbruch." Doch dann sah er das Wasser. "Die Wellen schlugen einen halben Meter hoch gegen unsere Fenster." Panik und Todesangst ergriffen Wien. "Ich brüllte meine Familie aus den Betten." Die Mutter kletterte aus dem Fenster in die eiskalten Fluten, trug mit letzter Kraft den achtjährigen Peter und die zehnjährige Brigitte durch die starke Strömung zum 50 Meter entfernten Haus des Großvaters.

Die beiden Großen mussten sich selbst helfen. "Ich werde nicht mehr zurückkommen können, ihr beide müsst euch anders retten. Versucht, aufs Dach zu kommen", sagte die Mutter erschöpft. Dann war sie fort, die kleine Brigitte trug sie auf dem Arm.

Der 13-jährige Wolfgang zog sich und den verängstigten kleinen Bruder über Küchentisch und -stuhl aufs Dach. Über die L-förmig verbundenen Dächer kämpften sie sich in Richtung der rettenden Großvater-Wohnung. Am Ende sprangen die Kinder vom etwa vier Meter hohen Dach in die reißenden Fluten. Großvater und Mutter hatten ihnen ein Seil zugeworfen, an dem sie die Jungen mit aller Kraft gegen die Strömung durch eine zwölf Meter breite Passage zogen. Das war Rettung in letzter Sekunde. Kurz darauf schossen scharfkantige Balken, Bohlen und Böcke aus einem überfluteten Baumaterialienlager durch die Passage.

Auch für zwei weitere Wilhelmsburger Zeitzeugen, die heute im Kreis Pinneberg leben, bleibt der 17. Februar 1962 unvergessen. Die verzweifelten Hilfeschreie der Menschen, die auf ihren Hausdächern oder in Astgabeln in der bitterkalten Dunkelheit um ihr Leben kämpften, beschreiben der Bönningstedter Hans Schultz, 81, und Günter Hübner, 58, aus Halstenbek als ihre vermutlich prägendste Erfahrung aus dieser Zeit. "Ich stand auf dem Deich, es war absolut dunkel, der Sturm heulte und alles, was ich hörte, waren die Hilfeschreie und das Stöhnen der Menschen. Das war das Schlimmste, diese Hilflosigkeit. Das war schlimmer, als dass wir alles verloren hatten", sagt Günter Hübner.

Tatsächlich hatten die Hübners aus dem Kleingartenverein Brummerkaten am 17. Februar alles verloren. Doch das wussten sie in dieser Nacht noch nicht. Wie die meisten Hamburger hatten sie trotz des Sturms nicht mit solchen Naturgewalten gerechnet. "Die Warnungen im Radio betrafen ja die Nordseeküste, und die schien uns weit genug weg zu sein." Hübners Vater habe beim Nachhausekommen von der Werft noch gewitzelt: "Wenn das so weiterpustet, dann läuft Wilhelmsburg voll."

Ernsthaft gerechnet habe damit aber keiner der Nachbarn. Die Hübners legten sich schlafen. Um 0.30 Uhr weckte sie ein Klopfen an der Fensterscheibe und der Ruf "Das Wasser kommt!". Die Hübners schlüpften in der Dunkelheit - Licht gab es nicht mehr - in die nächstbesten Kleidungstücke, flüchteten mit Verwandten zu fünft in einem Goggomobil auf höher gelegenes Gelände. "Dann kam uns plötzlich das Wasser entgegen. Meine Mutter schrie, wir sollten sofort aussteigen, sonst würden wir mit dem Auto steckenbleiben", sagt Hübner. In einem relativ hoch gelegenen Bauernhaus am Honartsdeich fanden die Hübners Unterschlupf. "Da waren schon viele andere Flüchtlinge, in der Wohnküche stand ganz ruhig eine Kuh." Unterdessen versank das kleine Haus der Hübners in den Fluten. Viele Nachbarn ertranken, ihre geretteten Kinder standen plötzlich als Waisen da.

"Durch die Straßen trieben Leichen und Tierkadaver", sagt Hans Schultz. In seinem Hausflur stand ein Pferd. 1962 bewohnte der damals 31-jährige Wilhelmsburger mit Frau und Sohn eine Parterrewohnung an der Fährstraße 51. Als er gegen 23 Uhr von lauten Geräuschen aus dem Keller geweckt wurde, sei er erst mal sehr ärgerlich gewesen, er dachte: "Da schaufelt jemand Briketts." Ein Blick aus der Wohnungstür ernüchterte Schultz. "Das Wasser schwappte schon gegen die Kellertür." Er weckte seine Frau, schickte sie mitsamt dem fünfjährigen Sprössling zu den Nachbarn im zweiten Stock und begann, seine Habseligkeiten vor dem steigenden Wasser retten. "Alle Nachbarn haben geholfen, wir bildeten eine Kette durchs Treppenhaus." Acht Tage fand die Familie bei den Nachbarn Unterschlupf. "Wir waren im Haus gefangen, es gab kein Licht, kein Trinkwasser, die Briketts waren nass. Es war eine Stunde Null, es gab einfach nichts."

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