Gerade einmal 100 Menschen gingen am Tag der Arbeit in Wedel auf die Straße - etwas mehr als in den Jahren zuvor

Kreis Pinneberg. "Wir müssen wieder lernen zu kämpfen!", ruft Peter Albrecht den Menschen auf dem Rathausplatz in Wedel zu. Applaus, Anfeuerungsrufe und Trillerpfeifen von 100 Demonstranten tönen dem Vorsitzenden des DGB-Ortsverbandes Wedel am Tag der Arbeit entgegen. Besonders viele Leute sind es nicht, die da am 1. Mai auf die Straße gegangen sind - wenn man bedenkt, dass im Kreis mehr als 300 000 Menschen leben. "Aber es sind mehr, als in den vergangenen Jahren", sagt Sigrid Wilke aus Wedel. Sie muss es wissen: Die 51-Jährige geht seit 30 Jahren am Tag der Arbeit auf die Straße.

Alle die gekommen waren - Junge und alte Menschen - zeigten sich gestern sich einig verbunden im Kampf für faire Löhne, gute Arbeit, soziale Sicherheit. "Das Demonstrieren am 1. Mail ist für mich selbstverständlich", sagte der Wedeler Marten Thomsen. Der 21-Jährige ist Juso-Vorsitzender in der Rolandstadt und lief im Demonstrationszug mit seiner Fahne voraus, weil er sich "für gerechte Löhne und gute Bildung für alle" stark machen will.

Martin Weinrich, 20, stammt aus Wedel, studiert in Bremen. Für die Demo kam er nach Hause. Auch, weil für ihn der 1. Mai in diesem Jahr eine besondere Bedeutung hat. Ab sofort gilt in Europa die Freizügigkeit: Der letzte Schlagbaum, mit dem sich die Bundesregierung vor ungebremstem Zustrom von Arbeitskräften aus Osteuropa schützen wollte, ist gefallen. Von sofort an können sich Arbeitskräfte aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn, aus jenen Ländern, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, sich überall ungehindert in der EU eine Beschäftigung suchen. "Deutschland hat sieben Jahre gezögert in dieser Frage", sagt Weinrich. "Andere Länder haben längst vom Facharbeiterzuzug profitiert - Deutschland hat einfach zu lange gewartet."

Auch die Wirtschaft im Kreis Pinneberg reagiert entspannt auf die Neuregelung. "Wir sehen das zwar mit gemischten Gefühlen", sagt Kreishandwerksmeister Helmut Rowedder. Der Sprecher von 1060 Betrieben in den Kreisen Pinneberg und Steinburg rechnet mit Nachteilen für seine Mitglieder. Schon vor einigen Jahren hätten Ein-Mann-Unternehmen aus Polen versucht, mit Dumpingpreisen für Fliesenarbeiten den hiesigen Handwerkern den Markt streitig zu machen. Allerdings habe sich hinterher oft herausgestellt, dass ihre Arbeit nicht mit der Wertarbeit deutscher Handwerksbetriebe mithalten konnte.

Rowedders Stellvertreter, Malermeister Thomas Dohrn aus Uetersen, sieht sogar einen Vorteil in der neuen Freizügigkeit aus Osteuropa. "Das ist für uns auch eine Chance, Fachkräfte zu bekommen." Dieser Auffassung ist auch die Fraktion der Grünen im Kieler Landtag. "Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Bereicherung für den hiesigen Arbeitsmarkt", sagt deren Sprecherin Claudia Jacob. Die sieben Jahre Übergangsfrist seien "für Deutschland verlorene Jahre beim Wettbewerb um die besten Hände und Köpfe" gewesen. Gelassenheit herrscht auch bei der IHK. "Wir rechnen nicht mit einem großen Zustrom", sagt Werner Koopmann, zuständig bei der IHK zu Kiel für den Geschäftsbereich International. Schon heute lebten und arbeiteten 420 000 Polen, 70 000 Ungarn, 35 000 Tschechen und 26 000 Slowaken in Deutschland. "Da werden jetzt nicht viel mehr kommen." Höchstens auf den Billiglohnsektor könnte diese Entwicklung einen zusätzlichen Druck ausüben, glaubt Koopmann. "Aber auch für die osteuropäischen Länder gilt hier der Tariflohn." Und wenn es im Pflegebereich auf diese Weise "Bewegung geben sollte - Gott sei Dank. Bei Krankenpflegern und - schwestern haben wir einen Engpass."

Von gewerkschaftlicher Seite wird die neue Freizügigkeit begrüßt. "Das gehört zum Grundrecht, sich frei bewegen und beschäftigen zu können", sagt Uwe Zabel von der IG-Metall-Unterelbe zum Tag der Arbeit. Es müsse gelten: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal wo die Menschen herkommen." Für alle Zweifler in Politik und Wirtschaft sollte dies das letzte Argument dafür sein, Mindestlöhne in allen Branchen zu akzeptieren.

Das sagen die Bürger

Norbert Wunder , 49, aus Wedel demonstriert am 1. Mai gegen eine zwiegespaltene Gesellschaft. "Oben werden die Leute hofiert, unten wird abgeschoben. Da stimmt doch was nicht."

Marten Thomsen , 21, ist Ortsvorsitzender der Wedeler Jusos. Er sagt: "Wir setzen uns ein für kulturelle Vielfalt und gute Löhne für alle - vom Genossen Sarrazin distanzieren wir uns."

Martin Weinrich , 20, aus Wedel zeigt am 1. Mai Solidarität mit Arbeitnehmern und Arbeitslosen. Statt auszuschlafen sagt der Bremer Student offen auf der Straße, was ihm nicht gefällt.

Rita Stüwe aus Bönningstedt demonstriert das erste Mal am 1. Mai. Sie möchte die Gewerkschaften unterstützen und hofft etwas zu bewegen. "Ich mache das für meine Enkel", sagt die 72-Jährige.