Hamburg/Norderstedt. Drei Leichtathleten aus Norderstedt haben sich für die Special Olympics World Games qualifiziert. Warum sie eine „Wundertüte“ erwartet.

Leichtathletik-Ortstermin in Hamburg-Alsterdorf. 17 Uhr. Durch die breite Fensterfront der riesigen, 6500 Quadratmeter großen Halle an der Krochmannstraße, strahlt die Abendsonne. Es herrscht sportliches Gewusel zwischen Weitsprunggrube, Laufbahn und Stabhochsprungmatte.

In jeder Ecke treffen sich Gruppen zum Training. Mittendrin: das dreiköpfige Team Norderstedt. Franz Bechler, Robin Schmidt und Jan Brückner bereiten sich auf die nahenden Weltspiele der Special Olympics in Berlin vor. Das Trio ist bestens ausstaffiert: einheitliches Sportdress, rot-weiße Funktionshemden mit „Team Norderstedt“-Schriftzug auf dem Rücken, schwarze Shorts, weiße Socken.

Special Olympics: „Besondere Ehre“ – Norderstedter repräsentieren Deutschland

Maike Rotermund, Haupttrainerin Leichtathletik, leitet das Warm-up. Mehr Special-Olympics-Expertise kann Norderstedt nicht in die Waagschale werfen – Rotermund war bislang bei sämtlichen Weltspielen vor Ort.

Auf der Tartanbahn trabt die HSV-Riege vorbei. Einige Leichtathleten winken. Es herrscht ein freundliches Nebeneinander in toller Atmosphäre. Inklusion lebt hier bereits. Franz Bechler (33), Sprinter und Speerwerfer, versteht sich selbst als „Frauenversteher“. Im Trainingslager in Erfurt hat er Leichtathletik-Kollegin Heidi aus Brandenburg kennengelernt, die bei den Special Olympics über 100 Meter und im Kugelstoßen starten wird. „Das gibt mir Extra-Motivation beim Training“, verrät Franz, „für Heidi hole ich eine Medaille.“

Bundesministerium des Innern unterstützt die Special Olympics

Am letzten März-Wochenende sind die Special-Olympics-Teilnehmer aus Schleswig-Holstein gemeinsam mit dem Bus nach Berlin gefahren. Im Messe-Hotel Estrel erhielten alle Athleten ihr offizielles Outfit – auch Franz Bechler. Das Bundesministerium des Innern unterstützt die Special Olympics gleichsam wie Olympische und Paralympische Spiele, dazu gehört auch die obligatorische Team-Einkleidung.

In der Alsterdorfer Trainingshalle deutet Franz auf seine Trinkflasche: „Mein Zaubertrank, wie bei Asterix.“ Das gallische Wunderwasser scheint zu helfen: „Ich werfe den Mini-Speer seit vier Jahren, meine Bestmarke liegt bei 20,30 Metern.“

Franz Bechlers Spezialdisziplinen: 100-Meter-Sprint und Mini-Speerwurf

„Beim Mini-Speerwurf sind regelmäßige Wiederholungen wichtig, die geben Sicherheit“, sagt Maike Rotermund. „Die Koordination muss immer wieder geübt werden, dann kann er das abspulen.“

Bei den nationalen Ausscheidungen 2022 in Berlin hat Franz Bechler Gold über 100 Meter und im Mini-Speerwurf gewonnen und so die Qualifikation für die Special Olympics klargemacht. „Es ist entscheidend, dass unsere Sportler durch Medaillen in ihren Disziplinen überzeugen, um ganz sicher dabei zu sein“, sagt Rotermund, „das Leistungsprinzip gilt. Siege bei der nationalen Ausscheidung sind die besten Argumente, sich nachhaltig für die Weltspiele zu empfehlen.“

7000 Aktive mit geistigem Handicap kommen nach Berlin

Unter dem Motto „Zusammen Unschlagbar“ beginnen am 17. Juni die Special Olympics World Summer Games, bei denen etwa 7000 Sportler mit geistigem Handicap aus der ganzen Welt – genauer gesagt 190 Ländern – nach Berlin strömen werden. Für Deutschland, erstmalig Ausrichter, ein Mega-Event, vergleichbar mit den märchenhaften Münchener European Championships im vergangenen Jahr.

Wichtig zu wissen: Die Athleten werden nach ihrer Bestmarke klassifiziert, starten also in leistungshomogenen Gruppen. Das Ergebnis sind gleich starke Gegner auf Augenhöhe, Frust bleibt aus, jeder kann an den Special Olympics auf seinem Niveau teilnehmen.

Die Vorfreude auf die Special Olympics in der Bundeshauptstadt ist riesig

„Alleine beim 100-Meter-Sprint gibt es 36 Abstufungen und 120 Staffeln“, sagt Maike Rotermund. So kommen in dieser Disziplin schnell 800 Leichtathleten zusammen.

Die Vorfreude ist riesig und steht den drei Norderstedter Leichtathleten ins Gesicht geschrieben. Hoch motiviert, fokussiert und gefühlt dauerlächelnd bereiten sie sich auf den Saisonhöhepunkt vor, treffen sich jeden zweiten Montag beim gemeinsamen Disziplin-Training in Hamburg-Alsterdorf. So verwundert es nicht, dass sie mittlerweile enge Freunde geworden sind.

Leichtathletik-Trio arbeitet bei den Norderstedter Werkstätten

Ihr Arbeitstag beginnt frühmorgens bei den Norderstedter Werkstätten. Robin ist im Hauswirtschaftsbereich tätig, hilft in der Küche mit, will aber bald zu den Gärtnern wechseln. Franz arbeitet in einer Montage- und Verpackungsgruppe. Nach einer Acht-Stunden-Schicht freut er sich auf jede Übungseinheit.

Franz Bechler ist ein Könner im Umgang mit dem Mini-Speer. Seine Bestweite liegt bei 20,30 Metern.
Franz Bechler ist ein Könner im Umgang mit dem Mini-Speer. Seine Bestweite liegt bei 20,30 Metern. © Timo Reinke

Das ständige Training trägt Früchte, er hat fünf Kilo Gewicht verloren. „Ich lasse beim Frühstück die Brötchen weg, Weizen ist schlecht“, sagt er. Franz Bechler läuft auch in der deutschen 4 x 100 -Meter-Staffel, deren Mitglieder aus verschiedenen Bundesländern kommen. Die Staffeln finden sich erst im Trainingslager.

Die internationale Konkurrenz ist eine „Wundertüte“

„Wir kennen uns durch die Lehrgänge an den Wochenende, da üben wir die Wechsel. Ich bin Startläufer“, sagt er stolz und schiebt hinterher: „Ich habe die Chance, eine Medaille zu holen.“ Doch eigentlich weiß niemand ganz genau, was die internationale Konkurrenz so drauf hat. „Es gibt keine Vergleichswettkämpfe“, weiß Maike Rotermund, „das ist für alle eine Wundertüte.“

Franz Bechler hat bereits Weltspiele-Erfahrung. Er nahm 2017 in Graz als Floorball-Torhüter teil und hat durch seine Parade in letzter Sekunde Bronze für Deutschland gerettet. Ein ganz besonderer Glücksmoment, den er im Berliner Olympiastadion – diesmal als Leichtathlet – unbedingt wieder erleben möchte. Für diese Aussicht lohnt sich der hohe Aufwand.

Für Robin Schmidt sind die Special Olympics Neuland

Für Robin Schmidt (26) ist alles Neuland. Seine Disziplinen: 100 Meter, Staffel und Weitsprung. Die größte Herausforderung: das Brett optimal zu treffen. Robin feilt am Anlauf, schafft im Montagstraining 3,25 und 3,30 Meter, seine Bestmarke liegt bei 3,32 Meter. Das war nah dran.

Robin und Franz sind beste Kumpels, unzertrennliche Zimmerkollegen in jedem Trainingslager. Bislang gab es zwei Lehrgänge in Erfurt und Kienbaum, jeweils von Freitag bis Sonntag. Im Mai folgt der dritte Lehrgang in Malente.

Special Olympics: Nationales Leichtathletik-Team besteht aus 32 Aktiven

Die Frauenversteher-Qualitäten von Franz färben dabei anscheinend ab, denn in Erfurt hat Robin Schmidt Lisa ins Herz geschlossen, ebenfalls eine Leichtathletin. „Es ist Wahnsinn, was man da für tolle Jungs und Mädels aus ganz Deutschland kennenlernt, der Zusammenhalt im Team ist riesig“, schwärmen beide.

Die deutsche Teilmannschaft Leichtathletik umfasst 32 Athleten, 16 Männer, 16 Frauen. Das Team Norderstedt trainiert alle zwei Wochen in der schicken Alsterdorfer Halle.

Die übrigen Einheiten absolviert jeder aus dem Trio individuell. Das Wintertraining in der Halle läuft seit zwei Monaten. Bei besserem Wetter kann dabei auf die Außenplätze gewechselt werden.

Hallentraining läuft seit zwei Monaten, bei gutem Wetter geht’s raus

Jan Brückner (32) deckt die längeren Distanzen ab. Seine Paradedisziplinen sind die 200 und 400 Meter, außerdem verstärkt er die 4 × 400-Meter-Staffel. Jan schafft die Stadionrunde draußen fast regelmäßig unter 60 Sekunden. „Mein Ziel im Wettkampf ist es immer, die Minute zu knacken.“

Genau wie Franz Bechler ist auch Jan Brückner schon für Deutschland angetreten. Er war bei den Winter-Weltspielen 2017 in Ramsau als Schneeschuh-Läufer erfolgreich dabei, hat eine Silber- und eine Bronzemedaille gewonnen. Bei den Norderstedter Werkstätten arbeitet er in der Gärtnerei.

Special Olympics stärkt das Selbstbewusstsein der Athleten

Auf seine Sportkameraden lässt er nichts kommen: „Wir sind eine eingeschworene Truppe“, sagt er. Sein Zimmerpartner kommt aus Neumünster. Beide gehören zum deutschen 4 × 400-Meter-Quartett. „Eine Medaille würde ich mitnehmen, mal gucken, was wir holen können“, meint Brückner. „Es ist eine besondere Ehre, Deutschland zu repräsentieren, das macht mich stolz.“

„Jan profitiert davon, er blüht richtig auf und macht das mit Freude, sein Selbstbewusstsein ist enorm gestiegen“, sagen seine Eltern, Raymond und Christa, die bei fast jedem Training in der Halle dabei sind.

Für die Special Olympics vom 17. bis 25. Juni in der Bundeshauptstadt sind sie längst akkreditiert – und können dann möglicherweise eine Medaille ihres Sohnes im Olympiastadion bejubeln.