Kisdorferwohld. Neue Stromtrasse soll Energieversorgung absichern. Warum das Vorhaben eine Vorbildfunktion für Deutschland haben könnte.

Formal sind es noch vorbereitende Maßnahmen. Doch wer in diesen Tagen die Baustelle für die Ostküstenleitung bei Kisdorferwohld sieht, kommt zu einem anderen Schluss: De facto hat die Umsetzung eines der größten Infrastrukturprojekte im gesamten Norden längst begonnen. Mächtige Erdhügel säumen einen 60 Meter breiten Korridor für die künftige 380-Kilovolt-Stromtrasse, daran angrenzend befinden sich Maisfelder, ein Landwirt ist mit dem Traktor unterwegs. Hier schlängelt sich eine Baugrube entlang, deren Ausmaße so langsam klar werden.

Luca Stockmann, Teilprojektleiter beim Netzbetreiber Tennet, steht dort, wo später, elf Meter tief, Erdkabel verlaufen werden. Hier, auf drei Kilometern, stehen in Zukunft keine Masten mehr. „Wir haben jetzt den oberen Boden abgetragen. Wir wurden die ganze Zeit während dieser Arbeit vom Archäologischen Landesamt Schleswig-Holstein begleitet. Besondere Funde hatten wir nicht, aber man findet zum Beispiel schwarzen Boden, mit Kohle versetzt. Wir haben 100 bis 500 Jahre alte Stellen, die dann kartiert werden.“

Neue Stromtrasse für Energiewende: Ostküstenleitung – ein Jahrhundertprojekt

Der Mutterboden wurde zum Teil bereits aufgetürmt, nach und nach werden die anderen Erdschichten hinzukommen. Und zwar nicht alles auf einem Berg. Ganz im Gegenteil, hier muss sehr exakt vorgegangen werden, auch mit großen Baggerschaufeln.

Mit Stahlplatten ist die Baugrube abgesichert – rechts: die alte 220-Kilovolt-Stromleitung, die mittelfristig abgebaut werden soll.
Mit Stahlplatten ist die Baugrube abgesichert – rechts: die alte 220-Kilovolt-Stromleitung, die mittelfristig abgebaut werden soll. © Christopher Mey

„Die Bodenschichten werden sehr streng voneinander getrennt. Hierfür haben wir extra eine Firma, die sich mit dem Bodenschutz auskennt, die uns beim Bau begleitet und sehr sensibel darauf achtet, dass wir den Boden so lassen, wie er war – und dass wir ihn nicht vermischen, das ist ganz wichtig, damit die Fläche komplett rekultiviert und im Nachgang eins zu eins wieder bewirtschaftet werden kann.“ Eine Ausnahme gibt es: „Große Wackermänner, die hier manchmal liegen, kann man nicht wieder rückverfüllen, da die dafür sorgen, dass der Boden eine andere Dichte hat.“

Die Leitung verläuft über 115 Kilometer von Ostholstein bis zur A7

115 Kilometer weit, von Ostholstein bis zur Autobahn 7, wird gebaut. Die Planung hat eine lange Vorgeschichte, schon 2015 wurde hierüber beraten und öffentlich gestritten. Henstedt-Ulzburg, nicht weit entfernt, wurde zum Zankapfel. Überhaupt erst als Reaktion auf den Widerstand, als zunächst eine Leitung durch den Rantzauer Forst, direkt am Waldkindergarten vorbei, erwogen wurde, entstand die heutige Variante.

Luca Stockmann, Teilprojektleiter beim Netzbetreiber Tennet, mit einem von Hunderten Golfbällen, die bereits gefunden wurden.
Luca Stockmann, Teilprojektleiter beim Netzbetreiber Tennet, mit einem von Hunderten Golfbällen, die bereits gefunden wurden. © Christopher Mey

Denn im Westen des Kreises Segeberg wird Pionierarbeit geleistet. Darauf weist auch Ingrid Nestle hin. Sie war damals, als die Planungen starteten, Staatssekretärin im Haus von Robert Habeck – seinerzeit Umweltminister in Schleswig-Holstein, nun Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Und Nestle sitzt heute für Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Sie kennt die Ostküstenleitung genau.

Bundestagsabgeordnete Nestle: Möglichst schonend bauen

„Es ist ein großes Infrastrukturprojekt, es ist ein Eingriff, ich möchte auch, dass hier möglichst schonend gebaut wird. Besonders spannend: Es ist das einzige 380-KV-Erdkabelprojekt in Schleswig-Holstein, und auch deutschlandweit eines der wenigen. Es ist spannend, welche Erfahrungen wir hier sammeln werden.“

Irgendwann in den kommenden vielleicht acht bis zwölf Wochen wird der Planfeststellungsbeschluss für die Ostküstenleitung erwartet. Dieser würde Rechtssicherheit schaffen – immer allerdings unter dem Vorbehalt, dass eine politische Mehrheit in Henstedt-Ulzburg eine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht einreichen könnte. Ob das so kommen wird, ist derzeit offen.

„Es ist an der Zeit, dass wir in Deutschland zusammenstehen“

Ingrid Nestle, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen: Sie war schon als Staatssekretärin des damaligen Umweltministers von Schleswig-Holstein, Robert Habeck, mit dem Projekt bestens vertraut.
Ingrid Nestle, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen: Sie war schon als Staatssekretärin des damaligen Umweltministers von Schleswig-Holstein, Robert Habeck, mit dem Projekt bestens vertraut. © Christopher Mey

Nestle äußert sich hierzu diplomatisch. Das Handeln der Großgemeinde wird in Berlin und Kiel genau verfolgt. „Ich begrüße es, dass hier die Erdkabelvariante getestet wird, auch, um die Waldkita zu entlasten. Es ist an der Zeit, dass wir in Deutschland zusammenstehen und die Infrastruktur schaffen, die wir brauchen.“ Und, ja, da hätte die Politik, auch die ehrenamtliche in Städten und Gemeinden, eine hohe Verantwortung.

Sie vergleicht zwei große Projekte in Schleswig-Holstein: Westküsten- und Ostküstenleitung. „Wir hatten damals zwei große Dialogprozesse. Bei der Westküstenleitung war ich im letzten Jahr bei der Eröffnung, da fließt schon der Strom. Hier sieht man immerhin die Bauvorbereitung, das freut mich sehr.“ Schleswig-Holstein habe da „definitiv eine Vorreiterrolle“, sagt sie. „Ich merke es im Bundesvergleich immer wieder. So konstruktiv wie hier geht es in anderen Teilen nicht. Schleswig-Holstein ist der Spitzenreiter, was die Umsetzung beim Netzausbau angeht.“

Für erneuerbare Energien müssen die Stromleitungen leistungsfähiger werden

Die Bundestagspolitikerin stellt auch noch einmal klar, warum die Ostküstenleitung für die Energiewende elementar ist. „Wir haben bei Putins Erpressungsversuch mit dem abgedrehten Gashahn gesehen, dass wir von fossilen Energien wegkommen müssen. Wir brauchen die erneuerbaren Energien, und die brauchen Leitungen. Wir brauchen sie auch für die Wettbewerbsfähigkeit, die Industrie wartet darauf, dass wir die Energie produzieren und dorthin bringen, wo sie gebraucht wird.“

In diesen Leerrohren werden später die Erdkabel verlegt.
In diesen Leerrohren werden später die Erdkabel verlegt. © Christopher Mey

Eine Zahl verdeutlicht den Wandel: Im Netzentwicklungsplan, also dem Strategiepapier für die Zukunft der Versorgung, wurde 2014 prognostiziert, dass in Ostholstein im Jahr 2024 insgesamt 560 Megawatt an Energie erzeugt würden. Die heutige Schätzung geht von 1130 Megawatt aus, die 2035 erreicht werden könnten – Tendenz steigend. Und wenn die Stromtrassen das nicht transportieren können, müssen Windräder abgeschaltet werden.

Hunderte Golfbälle wurden schon auf der Baustelle gefunden

Die Bauarbeiten kommen einigen Nachbarn sehr nahe. Projektleiter Stockmann bückt sich – und hält plötzlich einen Golfball in der Hand. In Sichtweite grenzt das Gut Waldhof an den Trassenkorridor an. Das hat kuriose Folgen, die quasi täglich zu beobachten sind. Denn von der Driving Range fliegen regelmäßig Golfbälle auf die Baustelle.

Stockmann: „Wir haben eine Abmachung mit dem Golfclub. Während wir hier die Arbeiten durchführen, schlagen die nicht. Sie haben die Abschlag-Plätze auch verschoben, damit sie nicht mehr in diese Richtung schlagen.“ Das Einzige, was erlaubt sei, ist das Training unter Aufsicht von Golflehrern, die grundsätzlich abschätzen können, wie weit der Ball fliegt. Aber Ausnahmen bestätigen offensichtlich die Regel.

„Viele Golfbälle haben wir schon im Vorfeld eingesammelt, es waren Hunderte, als unsere Kollegen hier entlangliefen.“ Es geht auch darum, dass kein Fremdmaterial in den Boden gerät, wenn die Grube geschlossen wird. Also liefert Tennet die Bälle wieder beim Golfclub ab.

Ostküstenleitung: 2027 soll die Stromtrasse in Betrieb gehen

Direkt nördlich ist die Gegenwart des Stromtransports zu sehen – die bestehende 220-Kilovolt-Leitung, ausnahmslos mit Freimasten. Noch – denn wenn die Ostküstenleitung in ein paar Jahren (geplant: 2027) in Betrieb geht, kann die alte Trasse weg. „Die Strecke ist drei Kilometer lang. Sie wird verschwinden“, kündigt er an, „es wird nur noch den Kabelabschnitt geben, den man nicht mehr sehen kann.“

Was jedoch nicht möglich ist, wäre, die neue Leitung von Start bis Ziel unter die Erde zu bringen. Das wäre schlicht zu teuer, schon jetzt liegen die Kosten bei 1 Milliarde Euro. „Im Grundsatz ist es richtig, mehr Geld auszugeben, um dafür schonender zu bauen“, sagt Ingrid Nestle. „Klar ist auch, es muss im Verhältnis stehen, daher gibt es diese wenigen Pilotstrecken. Am Ende wird man es immer sehr dosiert einsetzen – ich glaube nicht, dass wir die Drehstromstrecken jemals komplett erdverkabeln werden, weil es zu teuer ist. Nur an besonders empfindlichen Stellen.“