Norderstedt. Im Prozess um mutmaßlichen Kindesmissbrauch wurde jetzt eine Psychologin angehört. Was sie sagte und wie es weitergeht.

Hat ein heute 54 Jahre alter Norderstedter im Jahr 2000 einen damals zwölf Jahre alten Jungen vergewaltigt? Oder handelt es sich bei den Vorwürfen, die der mutmaßlich Geschädigte – heute 34 Jahre alt – erhebt, um eine sogenannte „Scheinerinnerung“? Darum ging es am Montag im Norderstedter Amtsgericht. Und es kam zu einer sehr wichtigen Anhörung. Es kam nämlich jene Psychologin ausführlich zu Wort, die genau diese Frage professionell beurteilen soll.

Per Video zugeschaltet in den Gerichtssaal war an diesem vierten Prozesstag Dr. Judith Arnscheid, tätig in Stuttgart als Psychotherapeutin und Fachpsychologin für Rechtspsychologie. Die Staatsanwaltschaft hatte sie beauftragt, nachdem der mutmaßlich Geschädigte im Jahr 2019 bei einer Norderstedter Polizeistation die schon 19 Jahre zurückliegende Tat angezeigt hatte.

Amtsgericht Norderstedt: Gutachterin hält Zeugen für glaubwürdig

Was er schilderte, soll sich im September 2000 damals in der Privatwohnung des heute 54-Jährigen abgespielt haben. Er soll am Abend mit dem Jungen einen japanischen „Hentai“-Film gesehen haben, in dem erotische Handlungen vorkommen. Dann soll er mit dem Jungen in einem Bett geschlafen und ihn dann, am nächsten Morgen, vergewaltigt haben.

Im Auftrag der Staatsanwaltschaft sollte Dr. Judith Arnscheid nun beurteilen, inwieweit die Schilderungen aus dem Jahr 2019 (die der Geschädigte später vor Gericht bekräftigte) glaubhaft und plausibel sind. Sie hat den Geschädigten deshalb im Jahr 2021 in Stuttgart getroffen und danach ein schriftliches Gutachten angefertigt, das Teil der Prozessakten ist.

Psychologin schildert, wie der Zeuge damals zu ihr kam – und wie ihr Eindruck war

Auf Wunsch von Strafverteidiger Jens Hummel, der den Angeklagten verteidigt, nahm sie nun auch noch einmal persönlich vor Gericht Stellung und beantwortete auch Fragen. Wie sie schilderte, wurde die Befragung an einem einzigen Termin durchgeführt – üblich seien eigentlich zwei. Aber zu mehr als einem Termin sei der 34-Jährige, der starke psychische Probleme hat, nicht in der Lage gewesen. Seine Frau habe ihn zu dem Termin begleitet.

Ihren Eindruck von dem Geschädigten, der im Gerichtsverfahren auch Zeuge ist, schildert sie so: Dieser leide an „ADHS, Depressivität, Ängstlichkeit.“ Und er habe teilweise durchaus eine „verzerrte Wahrnehmung“, das betreffe aber eher die eigene Person. Eine „manifeste Persönlichkeitsstörung“ habe er nicht, er sei intelligent und es gebe „alles in allem nichts, was die Aussagefähigkeit gravierend beeinträchtigt.“

Zwei Möglichkeiten werden geprüft: Bewusste Lüge oder „Pseudo-Erinnerung“

Sie schilderte auch, wie in Fällen wie diesen vorgegangen werde: „Wir ziehen die Aussagen erst einmal grundsätzlich in Zweifel und prüfen zwei Möglichkeiten.“ Die erste sei, dass der betreffende Mensch bewusst lügt und die zweite, dass er an etwas tatsächlich glaubt, was sich so aber nicht zugetragen hat. Eben eine „Scheinerinnerung“. Jens Hummel hatte in dem Prozess mehrfach angedeutet, dass es sich im Falle des Vergewaltigungsvorwurfs genau darum handeln könnte.

Wie Dr. Arnscheid erklärte, habe sie die Möglichkeit einer Lüge sehr schnell verworfen. Dafür gebe es keine Anhaltspunkte und auch kaum ein Motiv. Die Möglichkeit einer Schein- oder Pseudo-Erinnerung habe sie hingegen eingehender geprüft – sieht sie aber auch als unwahrscheinlich an. „Ich würde die Hypothese Autosuggestion eher verwerfen. Es gibt gibt wenig Faktoren, die darauf schließen lassen“, sagte Dr. Arnscheid.

Was aus Sicht der Psychologin gegen eine „Pseudo-Erinnerung“ spricht

Was spricht dagegen, dass sich der 34-Jährige das Geschehen Jahre später eingebildet haben könnte, etwa im Rahmen seiner psychischen Erkrankung? Zum einen, dass der Geschädigte die Erlebnisse während all der Jahre „immer im Hinterkopf“ gehabt habe, obwohl er versucht habe, nicht an sie zu denken. „Bei Pseudo-Erinnerungen heißt es dagegen oft, dass ganz plötzlich etwas hochgekommen sei“, so die Psychologin.

Außerdem hätten Pseudo-Erinnerungen leider „die böse Tendenz, auszuufern“. Das sei hier aber nicht der Fall – es gehe immer nur um ein Erlebnis und das werde immer weitgehend auf die gleiche Art geschildert. Dritter Punkt: Menschen, die Pseudo-Erinnerungen haben, erzeugten diese oft, um eine Erklärung für psychische Leiden zu finden. Das sei bei dem Geschädigten nicht der Fall, er habe sich nach seiner ohnehin schweren Kindheit „nicht mehr auf die Suche nach Erklärungen machen müssen.“

Wie die Psychologin kleine Widersprüche in den Aussagen bewertet

Dafür, dass die Schilderungen tatsächlich stimmen, spreche auch die Detailliertheit der Schilderungen und sowie deren „Konsistenz“, also die Tatsache, dass der 34-Jährige die Tat weitestgehend auf die selbe Art schilderte, im Zuge des ganzen Prozesses.

Richter Jan Willem Buchert merkte allerdings an, dass sich der Zeuge bei einigen Details durchaus selbst widersprochen habe – so hatte er die Kleidung, die er und der Angeklagte zur Tatzeit trugen, mehrere Male unterschiedlich beschrieben. Dr. Judith Arnscheid sagte allerdings, dass solche Abweichungen „absolut im Rahmen“ einer normalen Erinnerung lägen. „Das ist gedächnispsychologisch so. Kleidung ist in dem Zusammenhang etwas total Flexibles“, sagte sie.

Noch kein Urteil – erstmal werden zwei neue Zeuginnen vorgeladen

Zu einem Urteilsspruch kam es an diesem vierten Prozesstag noch nicht. Denn Richter Buchert und die Schöffen entschieden, dass sie noch zwei weitere Zeuginnen hören möchten. Es handelt sich um die beiden Töchter der kurzzeitigen Lebensgefährtin des Vaters des Geschädigten.

Den beiden Mädchen gegenüber, damals zwölf und zehn Jahre alt, soll der Geschädigte einige Zeit später die Vergewaltigung angedeutet haben. Das sagte er im Prozess aus. Und er soll sie auch vor dem Angeklagten gewarnt haben – schließlich war es damals offenbar üblich, das Kinder in dessen Wohnung übernachteten.

Die Frauen, heute 35 und 32 Jahre alt, werden nun vorgeladen und dafür wurde ein weiterer Prozesstermin anberaumt. Am Montag, 24. April, 8 Uhr, wird die Verhandlung fortgesetzt.