Bad Segeberg. Wie ein paar Jungs vor 110 Jahren die Kalkberghöhle entdeckten und welches weltweit einzigartige Tierchen dort lebt.

Die Segeberger Kalkberghöhle ist ein ganz besonderer Ort: Bis zu 30.000 Fledermäuse beziehen hier im Herbst regelmäßig ihr Winterquartier. Das ist vermutlich schon seit Jahrtausenden der Fall. Aber erst seit etwas über einem Jahrhundert wissen die Menschen, dass es unterhalb des Kalkberges eine verzweigte Höhle gibt. Vor genau 110 Jahren, am 16. März 1913, wurde sie entdeckt.

Und vom 1. April an darf sie wieder besucht und besichtigt werden. Dann haben die Fledermäuse ausgeträumt und beenden ihren Winterschlaf. Bis zum 30. September bleibt die Höhle für Besucher geöffnet.

Kalkberghöhle: Segebergs Unterwelt – Zufallsfund beim heimlichen Rauchen

In Schleswig-Holstein ist die Höhle unter dem Kalkberg nach wie vor das bedeutendste Winterquartier für Fledermäuse. Damit ist es nach Angaben des Kieler Umweltministeriums das einzige der insgesamt 78 unterirdischen Quartiere in Schleswig-Holstein mit internationaler Bedeutung. Das hat sich herumgesprochen: Über sieben Millionen Menschen haben die Segeberger Kalkberghöhle bis jetzt besucht.

Über eine Treppe gelangen Besucher in die mächtige Säulenhalle 35 Meter unter der Erde. Mit etwas Fantasie lassen sich sonderbare „Höhlenbewohner“ erkennen, so der Höhlenzwerg, der Frosch, das Höhlenkaninchen, der Löwe und das Kamel. Das Wasser, das einst in den Höhlen stand, hat das Gestein ausgewaschen und bizarre Formen entstehen lassen.

Ärzte schicken Asthma-Patienten in die Höhle

Sieben Fledermausarten kommen in der Kalkberghöhle vor. Jahr für Jahr überwintern hier 30.000 dieser Flugsäugetiere.
Sieben Fledermausarten kommen in der Kalkberghöhle vor. Jahr für Jahr überwintern hier 30.000 dieser Flugsäugetiere. © Noctalis

Das Klima in den Kalkberghöhlen ist sehr gesund. Ärzte schicken sogar Patienten in den Untergrund, um Keuchhusten und Asthma zu kurieren. Ständig herrscht dort eine konstante Temperatur von neun Grad, die Luftfeuchtigkeit beträgt 100 Prozent.

Die Schauhöhle ist, an geologischen Maßstäben gemessenen, noch sehr jung: Gerade einmal 20.000 Jahre ist sie alt. Anders als ihr Name es vermuten lässt, besteht sie nicht aus Kalk, sondern aus Gips. Sie ist entstanden durch stetige Auswaschungen, der Grundwasserspiegel war hier einst viel höher. Das alles ist heute bekannt, wie sie aber von 110 Jahren entdeckt wurde und vor allem, warum sie so lange unentdeckt geblieben ist – darüber gibt es verschiedene Ansichten und Versionen.

Höhle ist über Jahrtausende unentdeckt geblieben

Über Jahrtausende unentdeckt geblieben ist sie vermutlich, weil niemand auf die Idee kam, mal unterhalb des Berges nachzuschauen. Vielleicht haben es einige Menschen gewagt, aber überliefert ist nichts. Das Höhlenspektakel begann erst vor 110 Jahren. Eigentlich schon vor 111 Jahren, aber ein Jahr lang blieb der Hohlraum unter dem Berg das Geheimnis von einigen Segeberger Schülern, die 1912 eine beim Gipsabbau entstandene Öffnung entdeckten, sich mit einer Wäscheleine abseilten und dann in dem sieben Meter tiefen Hohlraum in aller Ruhe zu Zigaretten griffen, um ungestört zu rauchen.

Von ihrem Versteck erzählten sie erst im März 1913 einem Seminaristen des Segeberger Lehrerseminars, der mit zwei Kommilitonen schon wenige Tage später auf Entdeckungstour ging. Aus dem Archiv des Segeberger Heimatforschers Peter Zastrow geht hervor, dass die Höhle am 16. März um neun Uhr morgens erstmals offiziell besichtigt wurde. Die Teilnehmer der Expedition entdeckten zunächst Abfall: Abraumschutt, Koch- und Nachttöpfe, Hausrat.

Am 20. März 1913 stand der erste Bericht in der Heimatzeitung

Den Segebergere Höhlenkäfer gibt es sonst nirgends auf der Welt. Etwa 10.000 Exemplare leben in der Kalkberghöhle.
Den Segebergere Höhlenkäfer gibt es sonst nirgends auf der Welt. Etwa 10.000 Exemplare leben in der Kalkberghöhle. © HA

Aber recht schnell stellten die Entdecker fest, dass es sich um eine ausgedehnte Höhle mit Gängen, Hohlräumen und viele Fledermäusen handelte. „Bereits am Abend des 16. März war die entdeckte Höhle das Stadtgespräch“, berichtet Peter Zastrow. Am 20. März stand der erste Bericht über die entdeckte Höhle in der Heimatzeitung.

Stolz feierte Segeberg die Kalksteinhöhle mit einem großen Fest. Der Bürgermeister pries in seiner Rede die „prächtigen Grotten und herrlichen Säulen“ an. Noch im selben Jahr wurde die Höhle für den Tourismus geöffnet, und schon in den ersten Tagen strömten tausende von Besuchern, um das neuentdeckte Naturschauspiel zu besichtigen. Neben dem Eingang wurde ein Häuschen gebaut, in dem Höhlenführer lebten.

40.000 Besucher kommen pro Jahr zur Höhlenbesichtigung

Kurz nach der Entdeckung besuchten diese hochoffiziellen Männer die Segeberger Kalkberghöhle. Das Foto ist am 16. März 1913, kurz nach 9 Uhr entstanden.
Kurz nach der Entdeckung besuchten diese hochoffiziellen Männer die Segeberger Kalkberghöhle. Das Foto ist am 16. März 1913, kurz nach 9 Uhr entstanden. © Archiv Peter Zastrow

Rund 40.000 Besucher, darunter viele Schulklassen, lassen sich pro Jahr durch die 300 Meter öffentlich zugänglichen Höhlengänge der etwa 2,26 Kilometer langen Höhle führen. Für Höhlenforscher hat sie bis heute eine ganz besondere Bedeutung. Sie ist einzigartig in Europa, weil das Grundwasser plötzlich abgesenkt wurde und der Entstehungsprozess der Höhle sehr gut zu erkennen ist.

Zeitpunkt und Umstände des Wasserabflusses aus der Höhle sind nicht bekannt, doch gibt es Vermutungen, dass die unweit der Höhle vorgenommenen – und letztlich gescheiterten – Probebohrungen zur Steinsalzgewinnung in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts den Wasserkörper des Kalkbergs derart beeinträchtigt haben könnten, dass sich dieser deutlich absenkte. Die Dynamik der Höhle ist für Geologen gut sichtbar.

Die Fledermäuse kommen von weit her nach Bad Segeberg

Expedition im Inneren der Kalkberghöhe.
Expedition im Inneren der Kalkberghöhe. © Frank Knittermeier

Eine große Bedeutung hat die Höhle für die Biologen. Denn nach Bad Segeberg flattern Jahr für Jahr rund 30.000 Fledermäuse von sieben Arten, um hier zu überwintern. Damit ist sie das größte Winterquartier für Fledermäuse in Nordeuropa. Seit 80 Jahren werden die Tiere beringt; deshalb weiß man, dass die Segeberger Höhle ein Einzugsgebiet von etwa 150 bis 200 Quadratkilometern hat.

Schon Ende Juli kommen viele Fledermäuse, die tagsüber in der Höhle schlafen und nachts aktiv sind. An den Lärm der Karl-May-Spiele haben sich die Tiere offenbar gewöhnt. Wenn die Fledermäuse schließlich in großen Scharen eintreffen, um ihr Winterquartier zu beziehen, sind die Festspiele längst beendet.

Für Geologen und Biologen hat die Höhle eine besondere Bedeutung

Für Biologen und Geologen hat die Segeberger Kalkberghöhle noch eine besondere Bedeutung. So ist ein Käfer das eigentliche Geheimnis. Er lebt zurückgezogen in Felsspalten oder im Dunkeln, fernab des Führungsweges. Den Segeberger Höhlenkäfer, der Choleva lederiana holsatica, lebt nur hier und sonst nirgends auf der Welt. Er ernährt sich von den Exkrementen der Fledermäuse, die hier „abhängen“; außerdem frisst er die Kadaver verstorbener Fledermäuse. Etwa 10.000 Exemplare leben verborgen in der Kalkberghöhle.

Außerdem steht tief im Inneren der Höhle ein Seismograph, der seit 1995 jede Erdbewegung weltweit registriert und aufzeichnet. Eine an einer Feder aufgehängte Masse und kleiner Magnet darunter sorgen dafür, dass auch kleinste Bewegungen der Erde registriert werden. Betreiber ist die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe im Geozentrum Hannover.

Kalkberghöhle - Jede kleinste Erdbewegung wird registriert und aufgezeichnet

Wenn die Erde irgendwo auch nur einen millionstel Millimeter in Bewegung gerät, werden in der Kalkberghöhle Daten aufgezeichnet und an die Bundesanstalt weitergeleitet. Von dort gelangen die Daten zum weltweiten Sammelzentrum in Denver (USA). Die hier zusammengetragenen Daten tragen zum Gesamtbild der erdbebengefährdeten Gebiete bei.

Wären ein paar Segeberg Schüler vor 111 Jahren nicht heimlich auf Entdeckungstour gegangen, um ungestört rauchen zu können, wäre die Wissenschaft heute um einige Erkenntnisse ärmer.