Boostedt. Wenn Männer an ihren Wehrdienst denken, erinnern sich viele an die Kaserne in Boostedt bei Neumünster. Dort entstand nach der Gründung der Bundeswehr einer der größten Truppenstandorte des Nordens. Die promovierte Historikerin Leonie Hieck vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hat ein Buch über den Aufbau der Streitkräfte in Schleswig-Holstein geschrieben und dabei besonders genau den Standort Boostedt betrachtet. Das Abendblatt hat mir ihr gesprochen.
Hamburger Abendblatt: Warum war Schleswig-Holstein so wichtig bei der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 und der Bündnisverteidigung?
Leonie Hieck: Dies war seiner Lage im Norden Deutschlands, an der Grenze zur DDR und zwischen Ostsee und Nordsee geschuldet. Zusammen mit Dänemark stellte Schleswig-Holstein gewissermaßen einen „Brückenkopf“ dar, der im Falle eines Durchstoßes des Gegners durch Zentraleuropa behauptet werden musste.
Bundeswehr: Warum die Soldaten 1958 ausgerechnet nach Boostedt kamen
Die Verteidigungsstrategen der Nato gingen davon aus, dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten bei einem Angriff schnellstmöglich die westlichen Nordsee- und Atlantikhäfen erreichen und besetzen wollen würde, um hier das Anlanden von Verstärkungstruppen und Versorgungsgütern der Nato zu unterbinden. Schleswig-Holstein war dabei besonders gefährdet, da es direkt an der Grenze lag und bis zum Hamburger Hafen lediglich 50 Kilometer überwunden werden mussten. So wäre der Zusammenhang des westdeutschen Bundesgebiets durchschnitten worden, und den in Schleswig-Holstein stationierten Kräften wäre die Aufgabe zugekommen, den Gegner aus der nördlichen Flanke heraus anzugreifen. Daher wurden, vor allem nördlich des Nord-Ostsee-Kanals, zahlreiche militärische Flugplätze angelegt. Die schleswig-holsteinischen Nato-Flugplätze hatten im Verteidigungsfall eine überaus günstige Lage, waren aber auch für den Gegner erstrebenswerte Ziele. Daher mussten sie entsprechend stark geschützt werden.
Sie beschreiben am Beispiel Boostedt die Gründung eines neuen Standorts. Was sprach für diesen Ort, an dem eine der größten Kasernen Deutschlands entstand?
Bei den Stationierungsüberlegungen für die Bundeswehr fasste man grundsätzlich zunächst die ehemaligen Wehrmachtsliegenschaften ins Auge. In Boostedt war dies der sogenannte Borne-Platz, ein Truppenübungsplatz mit Munitionsniederlage. Ausschlaggebend war dann zum einen die günstige verteidigungsstrategische Lage Boostedts. Als Garnison und damit militärisch hochwertiges „Ziel“ lag Boostedt weit genug von den Ballungsgebieten Hamburg, Kiel und Lübeck entfernt, besaß mit Neumünster jedoch auch Anbindung an eine größere Stadt.
Bundeswehr: Flächen in Boostedt befanden sich in Bundeseigentum
Dies war für die hier stationierten Soldaten wichtig, niemand wollte an einen sogenannten Einöd-Standort versetzt werden. Boostedt war zudem gut an die Hauptverkehrsadern angeschlossen, sodass hier Truppenbewegungen gut zu bewerkstelligen waren. Last but not least sprach für Boostedt auch der Umstand, dass sich von den in Anspruch genommenen 350 Hektar Land bereits ein guter Teil im Bundeseigentum befand und auch die übrigen Flurstücke kaum genutzt wurden. So war die „Freimachung“ dieses Geländes vergleichsweise einfach.
Wie kam es zur politischen Entscheidung, Boostedt als Bundeswehrstandort zu wählen?
Die politischen Entscheidungen folgten meistens den jeweiligen Bedingungen der „Freimachung“ der betreffenden Liegenschaften. Dem Bundesministerium der Verteidigung als dem Bedarfsträger kam es in dieser Phase des Streitkräfteaufbaus darauf an, die Liegenschaften und Kasernen möglichst schnell zur Verfügung zu haben. Dem Bundesministerium der Finanzen kam es darauf an, diese möglichst günstig zur Verfügung zu stellen zu können. Und der Landes- und Kommunalregierung kam es darauf an, möglichst geringwertige Flurstücke und gewerbefreie Gebäude abzugeben. Bei den Stationierungsentscheidungen fand daher bereits frühzeitig ein Aushandlungsprozess zur Vermittlung dieser unterschiedlichen Interessen statt, in dem in der Regel – auch im Falle Boostedts – einvernehmlich eine Entscheidung herbeigeführt wurde.
Welche Truppenteile wurden nach der Gründung im Jahr 1958 in Boostedt stationiert, und welche Aufgaben hatten Sie im Fall des Krieges mit dem Ostblock?
Nach der Fertigstellung der Truppenunterkunft 1958 zogen als größere Verbände das Panzerbataillon 13, später umbenannt in Panzerbataillon 183, und das Panzerbataillon 184 hier ein. Außerdem wurden das Panzergrenadierbataillon 46 – später in Panzergrenadierbataillon 182 umbenannt – sowie die Grenadierbataillone 11 und 46 in Boostedt stationiert.
Ziel war es, den Gegner möglichst lange von den Häfen fernzuhalten
Das Panzergrenadierbataillon 182 zog 1962 nach Bad Segeberg um. Die genannten Verbände gehörten der 6. Panzergrenadierdivision – der sogenannten Sechsten – an, deren Auftrag im Kriegsfalle darin lag, den Gegner so lange wie möglich auf- und vom Erreichen der Nordseehäfen abzuhalten. So sollte hier dem Anspruch der Vorneverteidigung, einer Verteidigung soweit östlich wie möglich, im Falle eines Angriffs Rechnung getragen werden.
Wie reagierten die Menschen in der Gemeinde auf den Einzug der Bundeswehr? Gab es Widerstand?
In der Tat gab es zunächst Widerstand gegen die Pläne, Boostedt zur Garnison werden zu lassen. Die Gemeindevertretung Boostedts verfasste eine Denkschrift, um die Bedenken der Boostedter bei den zuständigen Bundesministerien vorzubringen. Jedoch ging es der Gemeindevertretung dabei nicht um eine gänzliche Verhinderung der Stationierung – diese war bereits zuvor in Abstimmung mit Vertretern des Kreises einvernehmlich abgestimmt worden –, sondern lediglich um die Herbeiführung von zahlreichen Hilfen des Bundes bei den zu bewältigenden Folgemaßnahmen. Es sollte durch diese Denkschrift klargestellt werden, dass die Garnison nur auf Wunsch und für Zwecke des Bundes errichtet wurde und entstehende Kosten und Investitionen daher nicht der Gemeinde anzulasten seien. Dieses Vorgehen hat sich für Boostedt durchaus ausgezahlt – letztlich wurden der Gemeinde wesentlich mehr Hilfen und Darlehen gewährt, als diese selbst erhoffte.
Welche Bedenken bestanden gegen den Aufbau der Kaserne?
Die Bedenken bestanden zum einen in sozialer Hinsicht: Die Gemeinde befürchtete eine Überfremdung infolge der Stationierung zahlreicher Soldaten, die zum Teil auch ihre Familien mitbrachten. Boostedt war ja lediglich eine kleine Landgemeinde, das Verhältnis von Einwohnern zu Soldaten war zunächst 1:1, was für die Boostedter beängstigend wirkte.
Bundeswehr: Die Boostedter waren anfangs nicht begeistert
Der große Zuzug bewirkte aber vor allem die Befürchtung einer infrastrukturellen Überlastung: Schulen, Einzelhandel, Dienstleistungen, Gastronomie, Freizeit- und Kultureinrichtungen – sofern überhaupt schon vorhanden – waren dem sprunghaft ansteigenden Bedarf nicht gewachsen. Alle örtlichen Einrichtungen bis hin zu Straßenlaternen und Briefkästen wurden ins Feld geführt, um die nicht ausreichenden Kapazitäten Boostedts für das Kasernengroßprojekt zu demonstrieren.
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Hat die Bundeswehr versucht, sich als „guter Nachbar“ zu präsentieren, um die Bedenken zu zerstreuen?
Tatsächlich waren zahlreiche der Bedenken bereits hinfällig, als die ersten Bundeswehreinheiten die Kaserne belegten – durch die umfangreichen Bundeshilfen konnte ein wahrer Modernisierungsschub für Boostedt erzielt werden, noch bevor auch nur ein Soldat in der Gemeinde gesehen wurde. Moderne Siedlungen entstanden, es wurde ein Wasserwerk errichtet, Schul-, Verwaltungs- und Kapellneubauten entstanden, Freizeit- und Sporteinrichtungen wurden angelegt.
Bundeswehr: Tage der offenen Tür wurden im Laufe der Jahre zu Besuchermagneten
Als die Bundeswehr dann einzog, konnte sie sich im Rahmen ihrer ersten (Hilfs-)Einsätze bewähren: Erntehilfe, Hilfe bei Moorbränden und Einsatz bei der Flutkatastrophe 1962. Durch zahlreiche Veranstaltungen wie Jahresempfänge, Sport- und Sommerfeste sowie Bataillonsbälle konnte die anfängliche Distanz zwischen den Boostedtern und ihren Soldaten überwunden werden. Die jährlichen Zapfenstreiche anlässlich der Rekrutenvereidigungen und die in Boostedt als Bürger-Biwak abgehaltenen Tage der offenen Tür waren stets ein Besuchermagnet und regelrechte Spektakel für die kleinen Gemeinde. Aber natürlich gab es auch Kneipenschlägereien, und so mancher Soldat lernte auch die örtlichen Arrestzellen kennen.
Wie veränderte sich die Region ökonomisch und gesellschaftlich mit der Aufstellung der ersten Einheiten der Bundeswehr?
Ökonomisch konnte Boostedt zunächst nicht von der Bundeswehransiedlung profitieren. Mit der Inanspruchnahme der alten Munitionsanlage verlor Boostedt einige Gewerbetreibende und damit Gewerbesteuereinnahmen. Im Gegenzug kamen jedoch keine neuen Gewerbeansiedlungen hinzu – in dieser Hinsicht wirkte sich die Nähe zu Neumünster negativ aus. Viele Bedarfe konnten durch Dienstleister und Anbieter aus Neumünster befriedigt werden, sodass Boostedt trotz des starken Bevölkerungsanstiegs zunächst keinen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Gesellschaftlich wirkten sich die zahlreichen Zugezogenen jedoch positiv aus: Es kam zu einer Ausdifferenzierung des Bildungs-, Freizeit- und Kulturangebots. Dieses wiederum steigerte die Attraktivität Boostedts als Wohngemeinde, sodass das zunächst sehr ungünstige Verhältnis von Garnisonsangehörigen zu Einwohnern sich zunehmend verbesserte.
Bundeswehr: Die letzten Einheiten zogen 2015 aus Boostedt ab
Am 30. November 1966 erhielt die Kaserne in Boostedt den Namen „Rantzau-Kaserne“ zu Ehren des schleswig-holsteinischen Adelsgeschlechts Rantzau. Soldaten des Standorts waren mehrfach in Afghanistan und auf dem Balkan im Einsatz. Die letzten Einheiten zogen im Dezember 2015 aus Boostedt ab. Heute wird das Kasernengelände für die Unterbringung von Flüchtlingen genutzt. Der Übungsplatz steht weiter der Bundeswehr zur Verfügung.
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