Kreis Segeberg. Lieferengpässe bei Paracetamol, Fiebersaft oder Antibiotika verschärfen sich. Was nun getan wird, um kranke Kinder zu versorgen.

Es ist eine Ausnahmesituation für Apotheken, Arztpraxen und Krankenhäuser: Bei insgesamt 334 unterschiedlichen Medikamenten (Stand 20. Dezember 2022) wurden zuletzt Lieferengpässe gemeldet. Besonderer Mangel besteht bei Arzneimitteln für Kinder. Allen voran stehen fiebersenkende Mittel wie Paracetamol oder Ibuprofen. Doch auch Medikamente für Erwachsene sind knapp. Dazu gehören diverse Antibiotika.

„Die Situation ist dramatisch“, sagt Michael Steffen, Inhaber der Glashütter Apotheke und der Eichen-Apotheke. Besonders betroffen seien Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren. Denn als Zäpfchen oder Säfte sind Paracetamol und Ibuprofen zurzeit kaum bis gar nicht erhältlich.

Norderstedt: Die Lage in Apotheken ist dramatisch

„Prophylaktisch bekommt keiner mehr Ibuprofen oder Paracetamol, und auch akute Fälle müssen wir manchmal wegschicken“, so Lotte Schuhr, Inhaberin der Spitzweg-Apotheke in Norderstedt. „Bei uns waren schon Eltern, die nach Fiebersaft gefragt haben und zuvor in fünf oder sechs anderen Apotheken waren“, berichtet der Apotheker Steffen.

Um die Versorgung von Kindern in akuten Fällen zu gewährleisten, müssen die Apotheken kreativ werden. „Ab sechs Jahren können Kinder Ibuprofen und ab vier Jahren Paracetamol auch in Form von Tabletten zu sich nehmen“, sagt Stephanie Suhrbier, Inhaberin der Erlen-Apotheke.

Tabletten für Erwachsene werden zerteilt und zerstoßen. Unter Apfelmus oder Bananenbrei gemischt, können Kinder somit die Wirkstoffe trotzdem zu sich nehmen. Doch auch Tabletten sind zeitweise nicht verfügbar.

Apotheken müssen sich selbst helfen, um Engpässe auszugleichen

Darüber hinaus fehlen Husten- sowie Antibiotikasäfte. Auch bei Insulin, Aspirin, Blutdruckmitteln, Halsschmerztabletten wie Dolo-Dobendan, Pantoprazol gegen Magenbeschwerden und Krebsmedikamenten kommt es zu Engpässen. Um das Ausmaß abzuschwächen, telefonieren die Apotheken untereinander, um die noch vorhandenen Arzneimittel unter den akuten Patienten zu verteilen.

Stephanie Suhrbier ist Inhaberin der Erlen-Apotheke in Norderstedt: Die Eigenherstellung von Medikamenten hat sich als sehr mühsam erwiesen.
Stephanie Suhrbier ist Inhaberin der Erlen-Apotheke in Norderstedt: Die Eigenherstellung von Medikamenten hat sich als sehr mühsam erwiesen. © Annabell Behrmann

„Wir haben eine Zeit lang auch selbst Medikamente aus Rohmaterial oder Granulat produziert“, sagt Lotte Schuhr. Doch die Eigenherstellung von Medikamenten stellte sich als äußerst mühselig heraus. „Es ist äußerst kostenintensiv. Die Arbeitskraft von einer Stunde für einen Saft rentiert sich nicht“, so Stephanie Suhrbier, „außerdem muss der Arzt die Rezeptur neu verschreiben“. Denn für ein Defekturarzneimittel benötigt der Patient ein anderes Rezept.

Globalisierung: Die Arzneimittelindustrie ist in Billiglohnländer abgewandert

Doch warum gibt es Engpässe vor allem bei Kindermedikanten? „Es gibt weniger Alternativen als im Erwachsenenbereich“, so Michael Steffen. Das bedeutet, dass weniger Hersteller das gleiche Medikament herstellen und es kaum Ausweichmöglichkeiten gibt, wenn ein Pharmaunternehmen gerade nicht liefert.

Im Allgemeinen sind Lieferengpässe jedoch Folge der Globalisierung und den dadurch entstandenen langen Lieferketten. Früher wurden viele Medikamente direkt in Deutschland hergestellt. „Deutschland war die Apotheke Europas“, so Steffen. Doch jetzt kommen viele Wirkstoffe aus China und Indien. „Die Arzneimittelindustrie ist in Billiglohnländer abgewandert.“

Medikamente: Wie es zu den Lieferengpässen gekommen ist

Außerdem: „Die Produktionsmenge ist deutlich geringer, die Gewinnmargen für die Industrie sind zunehmend unattraktiv“, so Sebastian Groth, Kinderarzt und Sprecher des Verbands der Kinder- und Jugendärzte Schleswig-Holstein.

Dr. Sebastian Groth, Kinderarzt aus Rendsburg, ist Sprecher des Landesverbandes für Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein.
Dr. Sebastian Groth, Kinderarzt aus Rendsburg, ist Sprecher des Landesverbandes für Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein. © Dr. Sebastian Groth

Manche Hersteller stellen deshalb die Produktion eines Medikaments ein. Lotte Schuhr stellt die Situation vereinfacht dar: „Wenn einer von zwei Herstellern ausfällt, dann kann der andere Hersteller nicht genügend liefern.“ Ein Hersteller kann die Nachfrage nicht alleine decken, und es kommt zu einem Engpass.

Der Grund, warum die Medikamentenindustrie zunehmend unattraktiv geworden ist, liegt im deutschen Krankenkassensystem. Denn es besteht ein hoher Kostendruck im Gesundheitswesen. Betroffen sind vor allem Generika-Hersteller. Das sind pharmazeutische Unternehmen, die ein bereits bestehendes Medikament nachproduzieren.

Versorgungsengpässe: Die Medikamentenindustrie wird zunehmend unattraktiver

Wenn mehrere Hersteller das gleiche Medikament verkaufen, entsteht ein Wettbewerb. Die deutschen Krankenkassen schließen Rabattverträge mit den Arzneimittel-Herstellern ab, und zwar mit dem Hersteller, der den höchsten Preisnachlass gibt. Dabei ist es zu defizitär hohen Rabatten gekommen.

Zusätzlich verschärft die aktuell hohe Inflation die Lage der Hersteller. „Die Produktionskosten und selbst die Pappverpackungen und die Glasflaschenpreise steigen deutlich“, sagt Groth, „die Saftherstellung ist durch den Preisdeckel der Krankenkassen per se unattraktiver für die Firmen.“ Aufgrund der Rabattverträge und des hohen Kostendrucks können Hersteller die Medikamentenpreise nicht einfach erhöhen, um die inflationsbedingt gestiegenen Produktionskosten zu decken.

Als Nachfolge von Corona ist die Erkältungswelle dieses Jahr besonders stark

Mit dem Winter hat auch die Erkältungssaison begonnen. „Durch die massive Infektwelle steigt die Nachfrage weiterhin enorm an“, so Groth. Die Erkältungswelle ist dieses Jahr besonders schlimm. Lotte Schuhr hat folgende Erklärung: „Während Corona wurde das Immunsystem nicht so stark gefordert, und in diesem Jahr werden keine Masken mehr getragen. Dadurch kommt es häufiger zu Tröpfcheninfektionen.“

Die Apotheken und Kinderarztpraxen stehen unter einer sehr hohen Belastung durch die starke Infektionswelle. „Es gibt ein sehr hohes Patientenaufkommen wegen der Infektionswelle, wobei hier mehrere verschiedene Erreger parallel relevant sind“, so der Kinderarzt Groth, der eine Praxis in Rendsburg führt. Dazu zählt das Grippevirus Influenza sowie RSV, das zu Atemwegserkrankungen führen kann.

Arzneimittelknappheit: Wie kann das Problem gelöst werden?

Zur Entspannung der Situation bedarf es einer schnellen Lösung. Groth sieht nur einen kurzfristigen Ausweg: „Seitens der Politik wäre eine konzertierte Beschaffungsaktion im Sinne eines großflächigen Einkaufs und Verteilung sinnvoll, ähnlich wie der Beschaffung von Masken und der Belieferung von Apotheken mit diesen zu Beginn der Corona-Pandemie.“