Norderstedt. Ein Drittel mehr Kunden, ein Viertel weniger Lebensmittel, Ehrenamtliche überlastet. Was die Tafel jetzt von der Politik fordert.

Die Tafel Norderstedt steuert auf die Überlastung zu. Ukraine-Krieg, Inflation und Energiepreis-Explosion haben auf einen Schlag die Zahl ihrer bedürftigen Kunden um ein Drittel erhöht, klagt Dörte Brauer-Claassen von der Norderstedter Tafel. Zugleich sei die Menge an Lebensmitteln, die sie regelmäßig an 1200 Haushalte in Norderstedt, Hamburg, Henstedt-Ulzburg und Ellerau verteilten, um ein Viertel zurückgegangen.

Einige der sieben Ausgabestellen der Tafel Norderstedt könnten deshalb nur noch alle zwei Wochen aufgemacht werden – statt wie bisher wöchentlich. „Und ohne hauptamtliche Kräfte geht es jetzt nicht mehr. Mit Ehrenamtlichen allein werden wir das nicht mehr schaffen“, warnt Margrit Grebe, Zweite Vorsitzende der Norderstedter Tafel.

Flüchtlinge: Norderstedter Tafel schlägt Alarm: Die Helfer brauchen Hilfe

Die Notlage der Einrichtung, die seit genau 26 Jahren jene Menschen in der Stadt mit den nötigsten Nahrungsmitteln versorgt, die sich selbst das Einkaufen kaum noch leisten können, wurde jetzt bei einer Podiumsdiskussion im Kulturwerk thematisiert.

Vor etwa 30 Gästen und Norderstedter Sozialpolitikerinnen erklärten die beiden Vorsitzenden Ingrid Ernst und Margrit Grebe, wie sie zurzeit nur unzureichend ihre notleidende Kundschaft bedienen könnten. „Wir stehen seit März dieses Jahres mit dem Rücken zur Wand“, klagte Ernst. Damals kamen die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine, von denen heute 850 in der Stadt lebten. Sie hätten die Tafel vor noch größere Probleme gestellt, als damals bei der ersten großen Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015.

Zahl der Bedürftigen Haushalte stieg um 300 auf jetzt 1200

„Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagte die Erste Vorsitzende der Norderstedter Tafel, Ingrid Ernst (2.v.l.), auf einer Podiumsdiskussion im Kulturwerk mit Staatssekretär Johannes Albig (von links), Nilab Alokuzay-Kiesinger, Margit Grebe (Zweite Vorsitzende) und Sozialdezernentin Katrin Schmieder.  
„Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagte die Erste Vorsitzende der Norderstedter Tafel, Ingrid Ernst (2.v.l.), auf einer Podiumsdiskussion im Kulturwerk mit Staatssekretär Johannes Albig (von links), Nilab Alokuzay-Kiesinger, Margit Grebe (Zweite Vorsitzende) und Sozialdezernentin Katrin Schmieder.   © Burkhard Fuchs

Durch die Ukraine-Flüchtlinge sei die Zahl der Haushalte, die sie versorgen, um 300 auf jetzt 1200 gestiegen. 500 alleine davon in Norderstedt, sagt Geschäftsführerin Dörte Brauer-Claassen. Gleichzeitig seien die Lebensmittel „rapide zurückgegangen“, weil zwei Supermarktketten jetzt eigene Lebensmitteltüten für Bedürftige packten.

„Unsere Manpower ist ziemlich am Anschlag“, warnt Margrit Grebe. Sie müssten aufpassen, dass sie die meist älteren ehrenamtlichen HelferInnen nicht überforderten. „Darum brauchen wir dringend hauptamtliche MitarbeiterInnen.“

„Chaos wird auf dem Rücken ehrenamtlicher Mitarbeiter ausgetragen“

Nilab Alokuzay-Kiesinger von der Tafel-Akademie in Berlin unterstützte: „Auf dem Rücken der Ehrenamtlichen wird hier ein Chaos ausgetragen.“ Sie fordert: „Wir brauchen einen Sozialgipfel, um das endlich zu regeln, ebenso wie es ja einen Wirtschaftsgipfel gibt.“ 60.000 Menschen arbeiteten in Deutschland ehrenamtlich für die Tafeln, die zwei Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgten. „Die brauchen endlich eine vernünftige Logistik. Dafür bedarf es hauptamtlicher Mitarbeiter, die das unterstützen, aber die ehrenamtlichen Kräfte nicht ersetzen können.“

Durch zahlreiche Spenden von privater Seite könne noch vieles aufgegangen werden, sagte Dörte Brauer-Claassen. Sie ist neben vier geringfügig Beschäftigten in Buchhaltung und Reinigung die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin der Norderstedter Tafel unter den 250 Ehrenamtlern. Leisten kann sich die Tafel die Mitarbeiterin nur, weil der Einrichtung 2020 eine Erbschaft gespendet wurde.

Welle der Hilfsbereitschaft in der Norderstedter Bevölkerung

„Die Leute kaufen zum Teil Lebensmittel ein und bringen sie uns vorbei“, sagte Brauer-Claassen. Es gebe eine Welle der Hilfsbereitschaft in Norderstedt. Auch die Hilfsvereine Rotary und Lions Club stellten Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Reis und Nudeln zur Verfügung. „Ich bin tief beeindruckt, wie viele Menschen sich hier in Norderstedt verantwortlich fühlen und anderen, Bedürftigen in der Krise helfen möchten“, sagte Margrit Grebe.

Aber wenn jetzt im Winter den Leuten die Abrechnungen ihrer Energieversorger ins Haus flatterten, drohe das System zu kollabieren. Schon jetzt bestehe ein Großteil ihrer Kunden neben den vielen Geflüchteten, darunter 300 aus der Ukraine, aus Rentnern und Geringverdienern, die die Inflation und Energiekrise nicht mehr allein bewältigen könnten und die auf diese Lebensmittel-Versorgung der Norderstedter Tafel angewiesen seien. „Die schaffen es nicht mehr, mit ihrem Geld auszukommen“, sagte Dörte Brauer-Claassen. Und die Zahl dieser Bedürftigen werde weiter steigen.

Sozialdezernentin warnt vor dramatischen Auswirkungen der Energie-Krise

Davon ist auch Norderstedts Sozialdezernentin Katrin Schmieder überzeugt. Es könnte passieren, dass sich der Kreis der Bedürftigen noch mal verdreifache, wenn die Leute „nach dem Bezahlen ihrer Strom- und Heizkosten einfach Hunger haben“, warnte sie. „Das kann dramatische Formen annehmen.“

Johannes Albig, Staatssekretär im Kieler Sozialministerium, verwies auf das Aktionsprogramm der Landesregierung, das den Tafeln in Schleswig-Holstein bis zu einer halben Million Euro ausschütten könnte. Doch das Geld dürfe nicht direkt an die Bedürftigen ausgezahlt werden, denen es dann sofort von ihrem Hartz-IV-Satz oder der Sozialhilfe abgezogen werde. Und es dürfe auch nicht für den Ankauf von Lebensmitteln genutzt werden.

Fördergelder: Viel zu kompliziert in der Beantragung

„Das wollen wir auch nicht, weil das dem Spirit der Tafeln widerspricht“, betonte Dörte Brauer-Claassen. Die Tafeln, die 1993 erstmals gegründet wurden und von denen es heute bundesweit fast 1000 gebe, seien angetreten, um das Wegwerfen und Verschwenden von Lebensmitteln zu verhindern, deren Haltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen ist.

Fördergelder seien zum Teil viel zu kompliziert in ihrer Beantragung, was die Ehrenamtler überfordere, machte Margrit Grebe an einem Beispiel deutlich. Für die Anschaffung eines Hubwagens, den sie dringend benötigen, hätten sie auf die Förderung verzichtet, weil sie sonst wegen der Lieferengpässe keinen mehr rechtzeitig bekommen hätten.

250 Helferinnen und Helfer arbeiten bei der Tafel – am Anschlag

„Die Abwicklung des Antrages hätte viel zu lange gedauert und es ist auch nicht praktikabel, immer drei Angebote einzuholen“, entgegnete sie dem Kieler Staatssekretär, der nur mit den Schultern zucken konnte und sagte: „Wir stehen in einem Dilemma und können nicht alle Sozialsysteme ersetzen. Da sind uns die Hände gebunden.“

Auch die Stadt Norderstedt versuche zu helfen soweit es geht, betonte die Zweite Stadträtin Schmieder. So würden einige Lebensmittel-Paletten in der Feuerwache nebenan gelagert, weil die Tafel im Schützenwall nicht genug Platz habe. Dort sind die 250 Helferinnen und Helfer, darunter 50 Fahrer, im Schichtwechsel täglich damit beschäftigt, mit den vier Fahrzeugen die 100 Supermärkte in Norderstedt, Quickborn, Henstedt-Ulzburg und dem Hamburger Norden wöchentlich abzufahren, um dort die Lebensmittel abzuholen. 14 Tonnen seien das pro Woche, sagte Brauer-Claassen.

Flüchtlinge: Jeder muss seine Bedürftigkeit bei der Tafel nachweisen

Alle Kundinnen und Kunden seien registriert mit Namen und Postleitzahl und müssten ihre Bedürftigkeit nachweisen. Das gelte inzwischen auch für die Geflüchteten aus der Ukraine. Und um den täglichen Ansturm zu bewältigen, würden die Ausgaben an die vielen Menschen auf bestimmte Wochentage verteilt im wöchentlichen. und zweiwöchentlichen Rhythmus. „Wir behandeln alle unsere Kunden gleich“, versicherte die Norderstedter Tafel-Chefin Brauer-Claassen.