Norderstedt. Kerstin Scheinert engagiert sich als Werkstatträtin für Menschen mit Behinderung. Wie ein Unfall ihr Leben für immer veränderte.

Pferde haben Kerstin Scheinert schon immer fasziniert. In ihrem Kinderzimmer hingen etliche Poster der Tiere. Die Abiturientin liebte es, auf ihrem Connemara-Pony namens Dusty auszureiten. Sie genoss die Zeit auf dem Rücken des Pferdes. Dann fühlte sie sich frei. Und mit der Natur im Einklang. Als sie an einem warmen Sommertag 1995 Dusty sattelte und in den Rantzauer Forst aufbrach, ahnte sie nicht, dass sich ihr Leben für immer verändern würde. Und sie zum letzten Mal auf einem Pferd sitzen würde.

Ein schrecklicher Unfall passierte. Ihr Pferd schreckte hoch, die damals 19-Jährige knallte mit dem Kopf gegen einen Baum. „Ich habe nicht viele Erinnerungen an diesen Tag“, sagt Kerstin Scheinert heute. Nur aus Erzählungen weiß sie, dass das Tier alleine zurück zum Stall galoppierte. Ohne sie. Der Besitzer machte sich daraufhin sofort auf die Suche nach der Reiterin – und fand Scheinert in einem Graben im Wald.

Berlin: Bundespräsident verleiht Norderstedterin den Verdienstorden

Sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte diagnostizierten ein Schädel-Hirn-Trauma schwersten Grades. Sie versetzten die Norderstedterin in ein künstliches Koma. Bei einer anschließenden Operation erlitt Scheinert einen Schlaganfall. Seitdem ist sie linksseitig gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Auf dem rechten Auge ist sie blind.

Wie schlimm der Unfall wirklich war, ist ihr erst einige Wochen später in der Rehaklinik bewusst geworden. Als sie zum ersten Mal in den Spiegel blickte. Sie sah eine junge Frau mit rasiertem Schädel und ausgeschlagenen Zähnen. „Ich war richtig fertig.“ Sie konnte nicht mehr richtig sprechen, geschweige denn sich bewegen. Immer wieder bekam sie epileptische Anfälle. Ihre Lehre in der Bank, in der sie bereits ein Jahr tätig war, brach sie ab. „Sie hätten mich weiterbeschäftigt. Aber ich habe mir den Job nicht zugetraut.“

Verdienstorden: Ehrung findet im Schloss Bellevue in Berlin statt

Fast zehn Jahre verbrachte sie mit Therapien. Dann wollte sie den Weg zurück ins Leben und in den Beruf finden. In einem Berufsbildungszentrum sagte ihr eine Mitarbeiterin allerdings ziemlich deutlich: „Das wird nichts.“ Die damalige Behindertenbeauftragte der Stadt Norderstedt riet ihr schließlich, sich bei den Segeberger Wohn- und Werkstätten am Standort Henstedt-Ulzburg eine Beschäftigung zu suchen. Hier arbeiten hauptsächlich Menschen mit einer psychischen Behinderung.

Diese Tätigkeit sollte Kerstin Scheinert so sehr ausfüllen, dass sie an diesem Freitag, 30. September, für ihre besondere Leistung für die Gesellschaft den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zum Tag der Deutschen Einheit verliehen bekommt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die inzwischen 47 Jahre alte Norderstedterin und 20 weitere Menschen ins Schloss Bellevue nach Berlin eingeladen und wird sie dort ehren.

Im Schloss Bellevue verleiht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Auch Kerstin Scheinert aus Norderstedt wird geehrt.
Im Schloss Bellevue verleiht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Auch Kerstin Scheinert aus Norderstedt wird geehrt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Kerstin Scheinert ist in der Werkstatt wieder aufgeblüht

„Als die Einladung per Post gekommen ist, habe ich es nicht geglaubt“, sagt Scheinert. Erst als sie mit Kollegen und ihrer Mutter darüber gesprochen hat, begriff sie: „Okay, die meinen das wohl echt ernst.“ Wer sie für den Verdienstorden vorgeschlagen hat, weiß sie nicht.

Kerstin Scheinert ist in der Werkstatt aufgeblüht. „Sie hat eine echte Veränderung in mein Leben gebracht“, sagt sie. Anfangs musste sie noch gefüttert werden – doch schon bald lernte sie, wieder eigenständiger zu leben. Das logische Denken, das durch ihre Kopfverletzung erheblich eingeschränkt war, verbesserte sich. Auch ihre Sprache kehrte zurück.

Als Werkstatträtin vertritt Scheinert Interessen der Beschäftigten

Zunächst erledigte sie Büroaufgaben. Nach fünf Jahren ließ sie sich in den Werkstattrat wählen – dieser vertritt wie ein Betriebsrat die Interessen der Beschäftigten. „Ich dachte, ich bin so etwas wie ein besserer Klassensprecher. Aber unsere Arbeit ist sehr politisch“, erklärt Scheinert. Die Wahl in den Werkstattrat war wohl eine der besten Entscheidungen ihres Lebens.

Bereits nach kurzer Zeit wurde sie zur Vorsitzenden gewählt und ist heute außerdem Gesamtwerkstatträtin der Segeberger Wohn- und Werkstätten. Daneben bringt sie sich seit Langem in der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte in Schleswig-Holstein ein, deren Vorsitz sie seit letztem Jahr innehat.

Schleswig-Holstein: 12.000 Menschen mit Behinderung arbeiten in Werkstätten

Sie trägt maßgeblich dazu bei, die Lebens- und Arbeitsbedingungen von rund 12.000 Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein zu verbessern. Scheinert setzt sich dafür ein, dass sie möglichst selbstbestimmt leben können. „Die Beschäftigten sollen selbst sagen, was für sie gut ist.“

Als besondere Leistung, die einen Orden des Bundespräsidenten verdient hat, sieht sie ihre Arbeit trotzdem nicht an. „Einige Sachen passieren zufällig, weil sich viele gute Menschen treffen. Ich wurde viel unterstützt und gefördert.“

Werkstätten geben Menschen eine Aufgabe – stehen aber auch in der Kritik

Allerdings wird an dem Konzept der Werkstätten auch immer wieder Kritik geübt. Unter anderem wird bemängelt, dass die Beschäftigten zu schlecht bezahlt werden und eine Inklusion in die Gesellschaft nicht stattfindet. Scheinert sagt dennoch: „Das ist der beste Arbeitsplatz, den ich in meiner Situation haben kann.“ Zwar sei der Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sehr schwer für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Aber die Werkstatt gebe ihnen eine Beschäftigung. Eine Struktur im Leben. „Jeder Mensch braucht eine Aufgabe. Arbeit ist viel mehr als nur Broterwerb.“

Das kann kaum jemand besser nachempfinden als sie. Die Arbeit als Werkstatträtin hat sie zurück ins Leben geführt. „Ich habe ständig etwas zu tun und bin andauernd unterwegs. Für mich ist das positiver Stress. Er wirkt sich positiv auf meine Gesundheit aus.“ Mit ihrem Schicksal hat sie nie gehadert. „Dafür habe ich gar keine Zeit.“