Norderstedt. Kaum Betreuungsplätze für Kinder in Not. Wie der Fachkräftemangel auf die Kinder- und Jugendhilfe durchschlägt.

Kinder und Jugendliche in Norderstedt und Umgebung, die in einer familiären Notlage sind, finden immer schwieriger einen geeigneten Betreuungsplatz. Der Grund: Es fehlt an allen Ecken an geeignetem Fachpersonal. Der Mangel macht sich in den Jugendämtern bemerkbar, aber auch bei sogenannten Freien Trägern, die Inobhutnahme-Plätze anbieten. Die Folge: Teilweise müssen in Extremsituationen Geschwister getrennt werden, oder die Kinder werden weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause untergebracht.

Das Problem gibt es deutschlandweit, vielerorts werden Erzieher und besonders Sozialpädagogen händeringend gesucht. Andrea Terschüren, Leiterin des Kreisjugendamtes, spricht von einer „fatalen Entwicklung, besonders für die Jugendämter, denen vor allem als Garanten für den Kinderschutz eine hervorgehobene Rolle zukommt.“ Der Mangel an sozialpädagogischen Fachkräften mache sich „übergreifend in allen Kreisen und Kommunen bemerkbar.“ Auch bei Freien Trägern sei der Mangel ein „ernst zu nehmendes Problem.“

Fachkräftemangel: „Müssen Geschwister voneinander trennen, das sind Dramen“

Norderstedts Jugendamtsleitern Karina Jungsthöfel spricht von einem „massiven Fachkräftemangel“ im gesamten sozialen Bereich. Auch in ihrem Amt sind derzeit Positionen unbesetzt. Den größten Bedarf habe der Allgemeine Soziale Dienst (ASD), „dort bräuchten wir im Moment etwa fünf zusätzliche Fachkräfte“, so Jungsthöfel. Es gebe allerdings laufende Bewerbungsverfahren.

Karina Jungsthöfel, Leiterin des Norderstedter Jugendamtes.
Karina Jungsthöfel, Leiterin des Norderstedter Jugendamtes. © Claas Greite

Sogenannte „Inobhutnahme-Stellen“, also Orte, an die Kinder kommen, wenn sie zu Hause nicht mehr betreut werden können, werden in Schleswig-Holstein ausschließlich von Freien Trägern betrieben. Viele solcher Träger hätten aber „Probleme, die Leute dauerhaft an sich zu binden“, so Jungsthöfel – da Sozialpädagogen derzeit leicht den Job wechseln und in weniger belastende Arbeitsumfelder wechseln könnten. Das führt zu einem ganz konkreten Mangel: „Das, was wir an bislang an Plätzen haben, reicht bei Weitem nicht aus“, sagt Andrea Terschüren.

„Mitarbeitende werden nachts um 3 geweckt, telefonieren sich Finger wund“

Wie sich das beim Norderstedter Jugendamt bemerkbar macht, schildert Karina Jungsthöfel eindrücklich: „Meine Mitarbeitenden werden nachts um 3 Uhr geweckt, weil ein Kind untergebracht werden muss. Sie wählen sich die Finger wund, telefonieren teilweise 20, 30 Einrichtungen ab. Aber überall heißt es: ‘Tut mir leid, wir sind voll.’ Die kriegen dann zu hören, dass sie in Brandenburg anrufen sollen. Teilweise müssen wir dann wirklich bis nach Brandenburg oder noch weiter ausweichen, um geeignete Plätze zu finden, auf die uns aber keiner hinweist.“ Aber das Ziel des Jugendamtes sei es ja gerade, solche Kinder wohnortnah unterzubringen.

Karina Jungsthöfel nennt ein weiteres Beispiel, wozu der Mangel an Plätzen führt: „Da sind zum Beispiel drei Geschwister, die wir unbedingt zusammen unterbringen wollen. Aber weil es keine Plätze gibt, müssen wir sie voneinander trennen. Das sind natürlich Dramen.“

Fachkräftemangel: „Mussten 2021 eine Einrichtung in Wittenborn schließen“

Einer der Freien Träger im Bereich der Inobhutnahmen ist die Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (NGD). Nicole Schenk ist dort Geschäftsführerin für Kinder und Jugendhilfe, Kindertagesstätten und Sozialpsychiatrie. Die NGD ist auch im Kreis Segeberg tätig – musste aber dort die Angebote kürzlich einschränken: „Wegen des Fachkräftemangels mussten wir im September 2021 eine Einrichtung in Wittenborn schließen.“ Die elf Plätze, die die Einrichtung in der Nähe des Mözener Sees bot, fallen nun weg.

Die NGD ist auch in Norderstedt tätig, bietet dort einen ambulanten Dienst an. „Wir würden gerne personell aufstocken, finden aber kein Personal“, sagt Nicole Schenk. Der Fachkräftemangel im Hamburger Randgebiet sei „eklatant.“ Aus dem selben Grund ging ein anderer Träger Norderstedt komplett verloren. Das Unternehmen „B + S Soziale Dienste“, aktiv im Bereich Straßensozialarbeit, zog sich im Frühjahr aus der Stadt zurück.

„Wir sind in Not“, sagt der Leiter des SOS-Kinderdorfes Harksheide

Einer der wichtigesten Freien Träger in Norderstedt ist das SOS Kinderdorf in Harksheide. Das Dorf ist noch vergleichsweise gut aufgestellt, aktuell sind alle Stellen besetzt. Dennoch sagt der Einrichtungsleiter Jörg Kraft: „Wir sind in Not“. Denn der Fachkräftemangel sei trotzdem spürbar. „Teilweise können wir Positionen monatelang nicht besetzen“, sagt Kraft.

So war es zuletzt zwischen Januar und Ende Mai 2021. Weil mehrere Fachkräfte fehlten, musste während dieser Zeit ein Haus auf dem Gelände komplett geschlossen bleiben. Die Jugendlichen, die dort normalerweise untergebracht sind und betreut werden, wechselten entsprechend ihres Entwicklungsstandes in andere Einrichtungsteile.

Fachkräftemangel „macht sich auch bei Überstunden bemerkbar“

„In dem Fall haben wir es organisatorisch hingekriegt“, sagt Kathrin Knapp, die die Verwaltung des Dorfes leitet. Aber der Fachkräftemangel bleibe ein großes Problem. „Das macht sich auch bei den Überstunden bemerkbar.“

Im Dorf leben aktuell 61 Kinder zwischen zwei und 18 Jahren. Sie stammen überwiegend aus Norderstedt und Umgebung. Dabei handelt es sich um eine eher auf Dauer angelegte „Regelunterbringung nach dem Sozialgesetzbuch 8, Paragraf 34“, sagt Jörg Kraft. Kurzfristige Inobhutnahmen mache das Dorf „nur in Ausnahmefällen.“ Wie Kathrin Knapp sagt, bekommt das Dorf in der Woche „zwischen 12 und 15 Anfragen aus ganz Deutschland“, ob Kinder untergebracht werden können. „Aber die müssen wir alle ablehnen, wir sind voll belegt.“

Leiter: „Haben nicht unbedingt die Wahl, wen wir einstellen“

Wie sich Marktlage bei Fachkräften verändert hat, schildert Kraft so: „Früher gab es 100 oder sogar 150 Bewerbungen auf eine Stelle. Heute ist das anders. Wir schalten permanent Stellenanzeigen und haben nicht unbedingt die Wahl, wen wir einstellen.“

Kathrin Knapp sagt: Wenn eine gute Bewerbung um 8 Uhr hereinkommt, müssen Sie bis 9 Uhr antworten. Sonst ist sie um 12 Uhr weg.“ Etwas Ähnliches schildert Karina Jungsthöfel: „Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen können sich derzeit die Stellen aussuchen. Wenn man gute Bewerbungen zwei Wochen liegen lässt, sind die Leute weg!“

Fachkräftemangel: Kitas und Schulen fegen den Markt regelrecht leer

Woran liegt es, dass der Markt derart leer gefegt ist? Dazu Jörg Kraft: „Land und Bund sorgen einerseits für eine enorme Nachfrage nach Erziehern und Sozialpädagogen, schaffen andererseits aber nicht genügend Ausbildungsplätze.“ Durch den massiven Ausbau von Kitas werde der Markt der Erzieherinnen regelrecht „leergesaugt“. Auch gebe es an Schulen einen riesigen Bedarf an Sozialpädagogen. „Durch die Inklusion gibt es einen explodierenden Markt an Unterrichts-Assistenzen an Schulen“, so Kraft.

Jörg Kraft, Leiter des SOS-Kinderdorfes Harksheide.
Jörg Kraft, Leiter des SOS-Kinderdorfes Harksheide. © Claas Greite

In der Situation geraten stark belastende Jobs in der Kinder- und Jugendhilfe ins Hintertreffen. Tätigkeiten wie die beim ASD unterliegen einem „enormen Belastungsgrad“, sagt Andrea Terschüren. Wer dort arbeite, müsse sich „permanent in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen“ bewegen und dabei immer das Kindeswohl im Blick haben. Terschüren: Das sei gerade für Berufseinsteiger „kaum leistbar und insoweit auch nicht zwingend attraktiv.“

SOS-Kinderdorf setzt auf junge Leute und macht Nachqualifizierungen

Auch eine Tätigkeit im SOS-Kinderdorf kann durchaus herausfordernd sein, zumal manche Kinder „schwer zu bewältigende Erfahrungen mitbringen“, sagt Jörg Kraft. Gleichwohl setzt das Dorf in Zeiten des Fachkräftemangels stark auf junge Mitarbeiter. „Wir stellen mehr oder weniger Leute ein, die direkt aus der Ausbildung kommen“, sagt Kraft. Diese jungen Leute bekämen dann allerdings auch eine „intensive Nachqualifizierung.“ Das SOS-Kinderdorf bietet auch Praktika an und versucht so, Personal frühzeitig an sich zu binden.

Auch Karina Jungsthöfel will verstärkt auf junge Leute setzen: „Praktika seien im Bereich des Jugendamtes derzeit unüblich, aber „eine gute Idee für die Zukunft.“ Sie sagt auch: Wir wollen an Fachhochschulen und Hochschulen herangehen, um die Fachkräfte nach Möglichkeit gleich nach dem Studium zu bekommen.“ Zudem habe die Stadt Norderstedt ein „Recruiting Team“ aufgestellt, um neues Personal zu gewinnen.

Fachkräftemangel: Es muss viel mehr ausgebildet werden, fordert Jörg Kraft

Nach Ansicht von Andrea Terschüren sind vor allem „Die Kultusministerien des Bundes und der Länder“ gefragt, um dem Mangel zu begegnen. Auch Jörg Kraft wünscht sich deutlich mehr Engagement von der Landesebene. Es müsse viel mehr ausgebildet werden, auch im Kreis Segeberg. Aber er beklagt: „Bei der Erzieherschule für Norderstedt mauert das Land.“

Handlungsbedarf besteht in jedem Fall. Und er wird wohl noch wachsen, wie Karina Jungsthöfel meint: „Zwei Jahre Corona-Pandemie haben die Lage verschärft und für mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Erwachsenen, für mehr schwierige Situationen gesorgt. Und auch für mehr Inobhutnahmen.“ Mit Blick auf die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten sagt sie: „Spätestens im Januar, Februar werden wir massiv damit zu tun haben, dass Eltern in großen finanziellen Schwierigkeiten stecken.“