Norderstedt. Interview: Stadtwerke-Chef Theo Weirich über die unsicheren Energiemärkte. Und worauf sich die Menschen einstellen müssen.

Noch bis Anfang 2023 ist Theo Weirich Werkleiter bei den Stadtwerken Norderstedt und Geschäftsführer von wilhelm.tel – dann geht er in den Ruhestand. Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt nimmt er Stellung zu den Preisentwicklungen bei Gas und Strom und der Strategie des Versorgers. Und er sagt, was getan werden müsste, damit sich die Situation mittelfristig bessert.

Energiepreise: „Ich gehe davon aus, dass es Moratorien geben wird“

Herr Weirich, ist die Versorgung mit Gas und Strom für die kalte Jahreszeit gesichert?

Ich gehe davon aus, dass die Speichermengen, die für zehn Prozent des Gesamtbedarfs ausgelegt sind, reichen werden. Und, dass es keine bundesweite Gas-Mangellage geben wird. Es werden keine privaten Haushalte abgeschaltet. Das ist technisch auch nicht realisierbar.

Warum nicht?

Wenn Sie eine private Anlage außer Betrieb nehmen, müssen sie diese mit einem Gas-Wasser-Installateur wieder in Betrieb nehmen. Dann brauchen Sie für eine Straße mit 40 Wohneinheiten schon einmal einen Tag.

Und wenn Nordstream 1 komplett wegfallen würde?

Dann würde die Hälfte des gesamten Marktes fehlen. Wir müssen eines wissen: Wir brauchen drei Jahre, um den Gaszustand in den Netzen zu ändern. Wir werden mindestens bis 2025, Anfang 2026 mit der Umstellung auf nichtrussisches Gas zu tun haben. Unter der Voraussetzung, dass wir 20 Prozent einsparen, kriegen wir das auch hin.

Die Preise für Gas und Strom am Spotmarkt sind gesunken. Was bedeutet das?

Das sind Zukunftswetten, Futures. Da geht schnell die Panik hoch, und das war beim Gas gar nicht so schlimm wie beim Strom. Das hat verschiedene Ursachen, die oft interpretiert werden. Am Spotmarkt werden Mengen, die verfügbar sind, gehandelt. Ein Beispiel: Wir kaufen nach einem Regressions-Fahrplan ein. Das heißt, wir prognostizieren aufgrund der Außentemperatur und einer langfristigen Entwicklung in den Häusern, wie viel Strom wir aus dem Spotmarkt und aus Einzelverträgen hinzunehmen. Da hat sich herausgestellt: Wir hatten mehr bestellt als wir brauchen. Die Mengen verkaufen wir dann zurück an den Spotmarkt. Und das passiert bei anderen Stadtwerken auch.

Sollte die Merit-Order (der Strompreis orientiert sich am Kraftwerk, das für Bedarfsdeckung als letztes nötig ist) beibehalten werden?

Sie funktioniert, wenn der Markt eingeschwungen ist. Wenn es zu extremen Ausschlägen kommt, zu Katastrophen, funktionieren die Marktmechanismen die ersten Tage nicht. Im Moment haben wir leider eine Schieflage, weil die Franzosen bei uns Strom kaufen – 42 Prozent von deren Anlagen sind außerplanmäßig außer Betrieb. Frankreich hat eine Strompreisobergrenze, das hat bei denen nicht sofort Auswirkungen auf den Endkundenmarkt. Das ist bei uns anders. Das muss die EU harmonisieren. Wir müssen uns solidarisch verhalten. Und es wird ja schon diskutiert, das Merit-Order-Verfahren außer Kraft zu setzen.

2023: 1700 Euro mehr für Gas, 700 Euro mehr für Strom

Was passiert 2023?

Wir wissen, dass Gas um den Faktor 3 bis 4 teurer wird. In diesem Jahr haben wir ungefähr 1000 bis 1250 Euro mehr für Gas aufzuwenden und etwa 100 Euro mehr für Strom. Auch die langfristige Beschaffungsstrategie der Stadtwerke wird nicht ausreichen, um die kontinuierlichen steigenden Beschaffungspreise an den Energiemärkten auszugleichen.

Was bedeutet das in Zahlen für die Kunden?

Das führt dazu, dass wir nächstes Jahr 1700 Euro mehr für Gas und 700 Euro mehr für Strom haben. Und Ende 2023 geht es dann auf einen Durchschnittswert von 2200 Euro mehr für Gas und 900 Euro mehr für Storm.

Haben Sie als Versorger eine andere Wahl, als weiter zu erhöhen?

Vom Handelsgeschäft betrachtet, haben Sie Recht. Dann sind Sie abhängig von Gas-, Öl- und Strommärkten, die gekoppelt sind. Ich nenne das Super-Symmetrie, weil man im Moment die Strompreise anhand der Gaskraftwerke berechnet. Das ist die Situation für die nächsten zwei bis drei Quartale. Aber wir haben auch andere Möglichkeiten, und dafür brauchen wir Ideen.

Welche?

Die Frage ist: Wie nachhaltig wollen wir unsere Energieversorgung aufstellen? Bisher hatten wir keinen Grund dafür. Wir haben billiges Erdgas aus Russland bekommen für 2,5 Cent an der Börse. Nächstes Jahr gehen wir auf die 30 Cent zu. Der Trend ist eine nachhaltige Erzeugung in den nächsten fünf Jahren. Wir müssen mehr in die Eigenversorgung, in die Beschaffung, in den Aufbau von erneuerbaren Energien investieren – damit meine ich alle Bereiche. Das ist ein vielfältiges Thema.

Weitere Preiserhöhungen werden kommen

Was muss dafür getan werden?

Umlagen wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz 2023 und Verordnungen müssen geändert werden. Es geht auch um Standards, die neu definiert werden müssen, wie beim forcierten Ausbau von Photovoltaik, der Solarthermie, anderer Möglichkeiten. Früher hatte eine Anlage 15 bis 20 Jahre Amortisationszeit – heute sind es nur fünf. Und dann wird es Zeit für ein neues Modell des Energiegeschäftes.

Wer ist da am Zug?

Da müssen wir mit dem Wirtschaftsministerium, dem Finanzministerium sprechen. Energie ist auch immer Steuerrecht. Sie sehen bei den Umlagen, wie jetzt die Gerechtigkeitsdiskussion anfängt.

Sie können also nicht ausschließen, dass es weitere Preiserhöhungen gibt?

Studien besagen, dass wir 2030 in etwa die gleiche Situation wie 2019 bekommen können – inflationsbereinigt. Die Preisdiskussion ist ja nicht nur durch den Ukraine-Krieg entstanden. Durch den Beschluss des Klimaschutzgesetzes 2019 musste allen klar sein, dass wir allein wegen der CO²-Steuer bis 2025 eine Verdoppelung des Strompreises haben. Da war nur das Gas nicht so das Thema.

Kunden erhöhen ihre Abschlagszahlungen für Gas

Sie hatten vor einigen Monaten öffentlich appelliert, dass Haushalte ihre Abschlagszahlungen vorsorglich anpassen sollten. Wie ist die Resonanz?

Stadtwerkesprecher Oliver Weiß: Es haben so viele Haushalte wie noch nie unterjährig beim Gas den Abschlag angepasst. Ob das in ausreichendem Umfang passiert, ist die Frage. Deswegen werden wir es weiter im Auge behalten, deswegen haben wir auf unserer Homepage die Abschlags-Ampel installiert.

Herr Weirich, rechnen sie mit Forderungsausfällen bei Privathaushalten oder Gewerbebetrieben?

Es ist sehr dynamisch. Wenn wir in eine Rezession kommen, und das ist nicht unwahrscheinlich, kann sich das beschleunigen. Es wird mehr die mittelständischen Unternehmen treffen, dazu ältere Leute, Witwen, junge Menschen, die sich verschuldet haben. Es sind nicht die Sozialhilfeempfänger, die betroffen sind, sondern diejenigen an der Schwelle. Wenn Leute ihren Abschlag um 300 Euro erhöhen, um am Jahresende ihre Rechnung bezahlen zu können, ist das für viele ein ausgewachsenes Problem.

Was wäre die Konsequenz? Strom und Gas abdrehen?

Ich gehe davon aus, dass es Moratorien geben wird. Wir sind für die Stadt da, nicht umgekehrt. Aber wir als Stadtwerke müssen auch Liquidität haben. Da muss es eine Lösung geben. Wir müssen da als Versorger Unterstützung vom Bund bekommen – die Kommune kann das nicht leisten, das geht ja fast in den dreistelligen Millionenbereich. Bei Uniper und anderen hat man es gemacht, und mit gutem Grund. Wären die Pleite gegangen, hätten wir kein Gas mehr bekommen.

Stadtwerke Norderstedt: Eigenbetriebe können nicht pleite gehen

Können Stadtwerke insolvent gehen?

Ja, das hat es auch schon gegeben. In Norderstedt ist es anders. Wir sind ein Eigenbetrieb, und die Stadt kann nicht insolvent gehen. Wir sind ein Teil der Stadt. Aber wir müssen jetzt abwarten, wie sich der Strommarkt entwickelt, weil er an das Gas gekoppelt ist. Wir hatten am letzten Freitag am Terminmarkt 1000 Euro für die Kilowattstunde Strom. Ohne Mehrwertsteuer, ohne Zahlungen für Transfer. Hätten wir an dem Tag gekauft, und das haben wir natürlich nicht, wäre das eine Veracht- bis Verzehnfachung des Preises. Das ist Wucher.

Warum geben Sie die Gasumlage weiter an die Kunden? RWE verzichtet darauf.

Wir müssten diese sonst tragen. Und wir sind als Eigenbetrieb verpflichtet, einen Gewinn zu machen. Dann bräuchten wir die Genehmigung, Verluste zu machen. Und ich glaube nicht, dass dies im Sinne unseres Gesellschafters – der Stadt – und in unserem Sinne ist. Wir müssen es weitergeben, um das Gleichgewicht zu halten. RWE kann das machen, weil sie Übergewinne gemacht haben – und sie wollen auch gut Wetter machen. Wenn wir Übergewinne machen würden, gingen diese 1 zu 1 an die Stadt.

Wie stehen Sie zu der von der Linken vorgebrachten Idee eines kommunalen Härtefall-Fonds für Bürger, die ihre Rechnungen nicht zahlen können?

Wir müssen viel ausprobieren. Ob es reicht, weiß ich nicht. Man sollte prüfen, ob es geht. Erst, wenn man es umsetzt, sehen wir, wo die Probleme liegen. Das Hauptproblem ist im Moment die ungerechte Verteilung.

Energiepreise: Weg von fossilen Brennstoffen ist Thema Nummer Eins

Niemand hatte damit gerechnet, dass wir solche Debatten führen müssen. Was ist strategisch schiefgelaufen?

Seitdem ich in der Energiewirtschaft tätig bin, 1980, hatten wir drei schwere Energiekrisen. In den 1980ern hatten wir einen Ölpreis von 151 Dollar je Barrel. Heute ist das üblich. Aber der Dollar war einmal bei 4 D-Mark. Wir sind da rausgekommen. Aber wir haben es versäumt, und das ist eine Kritik an uns allen, viel früher das Thema erneuerbarer Energien zu forcieren. Man kann natürlich sagen: Der Gesetzgeber hat es verschlafen, Merkel hat es nicht vorangetrieben. Die größte Sorge, die ich habe: Es fällt nächstes Jahr auf das alte Level zurück.

Wenn das russische Erdgas wieder wie früher fließen würde?

Wenn Russland jetzt auf 100 Prozent erhöhen würde, dann würde sich doch keiner bei uns beschweren. Dann glaube ich, dass wir sehr schnell in den alten Zustand verfallen würden. Aber wir haben den Klimawandel, jeden Tag Sturm, Trockenheit. Die Botschaft ist doch klar: Wir müssen weg von diesem Verbrauch, von fossilen Energien, das ist Thema Nummer eins.