Norderstedt. Welche Chancen die Sportler mit geistiger Behinderung in Berlin haben und welche Rolle ein Stoffkamel beim Radrennen spielt.

Noch fünf Tage bis zur Abreise.

An diesem Morgen ist die Spannung nahezu greifbar. Nicht mal mehr eine Woche, dann geht es los. Dann startet das Ereignis, auf das sie alle in den letzten Monaten und Wochen gewartet haben. Immer wieder haben sie ihre Trainerin gefragt, wie lange es noch dauert. Immer wieder hat Maike Rotermund ihre Athleten vertröstet, ihnen die Zeit bis zum 19. Juni ausgerechnet.

Special Olympics 2022: Team aus Norderstedt startet in Berlin

Seit 29. April tickt im Internet eine Uhr runter und zählt Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Start. Bis zur Eröffnung der Nationalen Special Olympics, die vom 19. bis 24. Juni in Berlin stattfinden – es ist so etwas wie die Olympischen Spiele für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung.

15 Sportler und Sportlerinnen der Norderstedter Werkstätten sowie des Inklusiven Sportvereins Norderstedt nehmen an den Nationalen Spielen teil und wetteifern um Medaillen. Sie alle können es kaum erwarten, am Sonnabendmorgen um 8.30 Uhr in den Zug Richtung Hauptstadt zu steigen. Maike Rotermund betreut seit mehr als 37 Jahren die Sportgruppen der Norderstedter Werkstätten.

Olympische Spiele für Menschen mit geistiger Behinderung

Valentina Beck tritt bei den Special Olympics im Radrennen an.
Valentina Beck tritt bei den Special Olympics im Radrennen an. © Miriam Opresnik (FMG) | Miriam Opresnik

Fünf Tage noch. Valentina Beck (30) kommt das wie eine Ewigkeit vor, manchmal zumindest. Dann hat sie das Gefühl, dass die Zeit gar nicht vergeht. Doch heute ist es anders. In ihrem Bauch hüpft es auf und ab, es fühlt sich an, als ob sie rauf und runter springt. Dabei sitzt sie ganz ruhig auf einem Stuhl. Aber ihr Herz hüpft vor Aufregung. Die Worte purzeln aus dem Mund, manchmal schneller als sie denken kann, dann verhaspelt sie sich ein bisschen und muss noch mal anfangen.

Valentina hat Trisomie 21, das sogenannte Down-Syndrom. Vor drei Jahren hat sie schon mal bei den Weltspielen in Abu Dhabi mitgemacht – sie war eine von vier Sportlerinnen des Leichtathletik-Teams, das für Deutschland angetreten ist – gegen Sportler aus der ganzen Welt. Damals hat sie in der 4 x 100-Meter-Staffel Gold gewonnen.

In Abu Dhabi holte Valentina eine Gold-Medaille

Damit möglichst viele Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung die Chance haben, an den Special Olympics teilzunehmen, dürfen die Sportler nach einer Teilnahme an den Spielen nicht noch einmal in derselben Disziplin starten. Damit soll verhindert werden, dass immer dieselben Athleten antreten. Auch Valentina darf dieses Mal nicht noch mal an den Leichtathletik-Wettkämpfen teilnehmen, sondern startet im Radrennen.

„Im Dreiradrennen“, betont sie. Sie weiß, dass Dreirad ein bisschen Kleinkind-mäßig klingt, aber das stört sie nicht. „Mein Rad hat ja drei Räder, dann heißt es auch so“, erklärt sie. Ihr Rad ist rot – „so rot wie Erdbeeren“, sagt Valentina und lächelt glücklich. Sie startet beim Rennen über einen Kilometer, zwei Kilometer und fünf Kilometer.

Ein Stoffkamel als Glücksbringer beim Fahrradrennen

In den vergangenen Wochen hat sie viel dafür mit ihren Eltern trainiert. Sie kommen natürlich mit nach Berlin, genauso wie Kameli – ein Plüsch-Kamel, das sie bei den letzten Spielen in Abu Dhabi geschenkt bekommen hat. Kameli wird ihr Glück bringen, da ist sich Valentina sicher. Beim Wettkampf wird Kameli in ihrem Korb auf dem Gepäckträger mitfahren.

Noch vier Tage bis zur Abreise:

An diesem Abend treffen sie sich noch mal zum Tennis-Training, punkt 19.30 Uhr beim T.S.C. Glashütte. Es ist das erste Mal, dass sie wieder spielen können, in den vergangenen beiden Wochen ist Christian Schlaikier ausgefallen. Corona! Ausgerechnet kurz vor den Spielen hat es ihn erwischt. Aber zum Glück ist er jetzt durch, am Sonnabend war sein PCR-Test endlich negativ! Nicht auszudenken, wenn sie deswegen ihre Teilnahme hätten absagen müssen.

Behinderte und Nicht-Behinderte Sportler treten als Unified Teams an

Christian Schlaikier ist schon auf dem Platz, als seine Mixed-Partnerin eintrifft: Annabell Behrmann. Sie treten als sogenanntes Unified Mixed Doppel bei den Nationalen Spielen an.

Unified bedeutet einheitlich und bedeutet, dass Menschen mit und ohne geistige Behinderung gemeinsam Sport machen und als gemischtes Team teilnehmen können.

Special Oympics: Im Tennis will Norderstedt eine Silber-Medaille holen

Annabell Behrmann und ihr Tennispartner Christian Schlaikier treten bei den Special Olympics 2022 in Berlin als Unified Team an.
Annabell Behrmann und ihr Tennispartner Christian Schlaikier treten bei den Special Olympics 2022 in Berlin als Unified Team an. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Heute, bei ihrer Generalprobe für die Spiele nächste Woche, treten sie gegen zwei Mannschaftskolleginnen von Annabell an. Eigentlich wollen sie nur ein bisschen locker spielen, damit Christian nach seiner Pause wieder reinkommt, doch der Tennisspieler gibt sofort alles. Er macht knallharte Aufschläge, hechtet zu den Bällen. Nach eineinhalb Stunden gewinnt das Team Behrmann/Schlaikier in drei Sätzen. Nach dem Ende des Spiels holt Christian zwei Silbermedaillen aus seiner Tasche heraus, die er bei den Landesspielen in Schleswig-Holstein in den Disziplinen Kugelstoßen und Minispeer gewonnen hat und zeigt sie den anderen. Dann sagt er zu Annabell: „So eine bringen wir auch mit nach Hause.“

Noch drei Tage:

Nach dem Frühstück holt Valentina noch einmal ihr rotes Rad aus der Garage und schwingt sich in den Sattel. Von den Norderstedter Werkstätten geht es zum Stadtpark und dort um den See herum. Valentina tritt ordentlich in die Pedale, es ist das letzte Mal, dass sie trainieren kann.

Die Rennstrecke führt auf das Brandenburger Tor zu

Bereits am Freitag wird ihr Rad in den Bus verladen, der das Sport-Equipment des Teams Norderstedt nach Berlin bringt. Valentina ist schon ein paar Rennen gefahren, aber Berlin wird etwas ganz Besonderes. Die Strecke führt über die Straße des 17. Juni direkt auf das Brandenburger Tor zu.

Noch zwei Tage:

Heute treffen sich die Leichtathleten zum Abschlusstraining. Franz Bechler hält den Minispeer sicher in der Hand. Konzentriert und routiniert geht er noch einmal die Bewegungsabläufe durch. Er beugt sich zurück, schnellt nach vorne und schleudert den Minispeer am gestreckten Arm nach vorne. Er weiß nicht, wie oft er die Bewegung schon gemacht hat, aber sie sitzt.

Franz Bechler aus Norderstedt darf mit der Fackel durch das Stadion laufen

Trainerin Maike Rotermund (Mitte) mit den Athleten Franz Bechler und Valentina Beck.
Trainerin Maike Rotermund (Mitte) mit den Athleten Franz Bechler und Valentina Beck. © Miriam Opresnik (FMG) | Miriam Opresnik

Bis zu 22 Meter hat er den pfeilförmigen Speer schon geworfen. Er ist schon mehrfach bei Nationalen Spielen gestartet und war sogar bei den Weltwinterspielen in Graz dabei. Dort hat er mit seinem Floorballteam „Die wilden Biber“ die Bronzemedaille gewonnen. Aber Berlin, das weiß er jetzt schon, wird anders als alles andere. Er darf mit der Fackel durch das Stadion laufen.

Noch ein Tag:

Heute werden die beiden Kleinbusse beladen, die ihr Gepäck nach Berlin bringen. Die Athleten fahren morgen mit der Bahn, ihr Equipment und ihre Koffer gehen heute schon auf Reisen. Maike Rothermund kontrolliert ein letztes Mal, ob alle Rucksäcke Namensschilder haben und sammelt von den Teilnehmern die Krankenkassenkarten ein.

Special Olympics 2022: Team hofft in Berlin auf viele Medaillen

Heute fragt niemand sie mehr, wie lange es noch dauert. Alle sind bereit. Ein letztes Mal stimmt Maike Rotermund ihren Schlachtruf an: „Gemeinsam sind wir stark!“ Eine letzte Sache gibt Maike Rotermund ihnen noch mit auf den Weg: „Ihr macht das schon!“ Morgen geht es los.