Tangstedt. Glück. Für einen Moment, ganz kurz nur, ist es da, dieses Gefühl. Vollkommen unerwartet, fast fremd. Als Svitlana Viala (42) vor sieben Wochen aus der Ukraine geflohen ist, zwölf Stunden stehend in einem überfüllten Zug, alleine mit den Kindern und ohne ihren Mann, hat sie gedacht, niemals wieder so etwas fühlen zu können. Glücklich zu sein, fast unbeschwert. Doch an diesem Abend, als sie um kurz nach 20 Uhr im Kinderzimmer seht und ihrer Tochter Diana (8) zusieht, wie sie mit Anlauf in ihr neues Bett und sich in die vielen Kissen fallen lässt, ist da einfach nur Glück.
Vor fast zwei Monaten ist Svitlana mit ihren Kindern Putins Armee entkommen und nach Deutschland gekommen. Doch angekommen ist sie erst heute, jetzt, genau in diesem Moment, in dem sie in ihrer eigenen Wohnung steht. „Meine Wohnung“, in den ersten Tagen hat sie die Worte immer wieder gesagt, leise, fast ehrfürchtig. So als könnte man den Zauber zerstören, wenn man zu laut spricht. Als man ihr vor drei Tagen gesagt hat, dass das Amt Itzstedt eine Wohnung angemietet hat und sie die erste ist, die aus der Tangstedter Mühle ausziehen kann, sind ihr die Tränen gekommen. Bisher hat sie im Hotel gewohnt, war ein Gast. Jetzt ist sie zuhause.
Vor der Flucht war Volodymyr ein Kind, jetzt ist er erwachsen
Es ist Mittwoch am frühen Nachmittag, als sie das erste Mal in die Wohnung kann, knapp 60 Quadratmeter im Obergeschoss. Die Sonne scheint und taucht das Wohnzimmer in helles Licht, von hier aus kann man ein Stück vom Feld sehen, unendliche Weite. Vor dem Küchenfenster steht ein Apfelbaum – er hat gerade angefangen zu blühen. Diana und Volodymyr (12) laufen immer wieder vom Wohnzimmer ins Kinderzimmer und überlegen, wie sie die beiden Betten aufstellen wollen. Ein Bett steht noch vom Vormieter im Zimmer, das andere können sie am Freitag, in zwei Tagen, abholen. Sie möchten so schnell wie möglich umziehen. Volodymyr würde am liebsten heute schon in der neuen Wohnung schlafen, egal wo, selbst auf dem Boden. „Wir können schnell im Hotel packen und dann hier wohnen“, sagt er ein paar Mal.
Svitlana schwankt, sie kann sich selbst kaum losreißen. Ein paar Mal breitet sie die Arme aus, um ein Maß abzuschätzen. Niemand von ihnen hat ein Metermaß mitgenommen. Die Wohnungsbesichtigung war eine Überraschung, man hatte ihr nur gesagt, mit ihr spazieren gehen zu wollen. „Ich glaube, das ist einer der schönsten Tage in meinem Leben“, sagt sie leise. Sie weiß, dass andere das vielleicht nicht verstehen können, wahrscheinlich hätte sie es früher selbst nicht verstehen können.
Früher, in ihrem alten Leben. So nennt sie die Zeit vor dem Krieg, vor der Flucht. Sie kann nicht glauben, dass das erst drei Monate her ist. Manchmal, wenn sie sich alte Bilder auf dem Handy anschaut, muss sie selbst nach dem Datum suchen, um sie zeitlich einordnen zu können. Für sie sind es Bilder aus einem alten Leben, das ihr so fern vorkommt, dass es kaum noch ihr Leben zu sein scheint. Auf einigen Bildern erkennt sie sich selbst kaum wieder. Sie zeigt Fotos von ihrem Vater und ihrem Mann, Fotos vom Familienurlaub in Ägypten, gerade einmal sechs Monate her. Am Pool, im Museum, in kurzen Hosen, mit langen Haaren, lachend, ausgelassen, unbeschwert. Sie haben Urlaub in einem teuren Hotel gemacht, jetzt überlegt sie, zur Tafel zu gehen.
Auf einem Bild ist sie mit Volodymyr zu sehen, es wurde kurz vor seinem zwölften Geburtstag aufgenommen. „Damals war er noch ein Junge, ein Kind, jetzt ist er erwachsen“, sagt Svitlana. Es sind nicht ihre eigenen Worte, sie gibt wieder, was Volodymyr kurz nach der Flucht zu ihr gesagt hat. „Jetzt bin ich ein Mann.“
Seit ein paar Tagen geht er in Nahe zur Schule, er hat dort neue Freunde gefunden, zwei Jungs, mit denen er zusammen im Bus fährt. Sie reden mit ihm Englisch, weil er das besser versteht als Deutsch. „Sie übersetzen für mich den Unterricht“, sagt Volodymyr. Er ist froh, dass er Kontakt zu anderen Jugendlichen hat, mit den Jungs im Hotel war es nicht ganz einfach. Er zuckt mit den Achseln, es ist besser, nicht darüber zu sprechen. Nicht darüber nachzudenken. Er will vergessen, neu anfangen. Hier und jetzt.
Die Kinder teilen sich ein Zimmer, die Mutter schläft im Wohnzimmer
Trotzdem, oder gerade deswegen: Svitlana entscheidet, dass der Umzug am Wochenende stattfindet. Samstag, vor Ostersonntag. Sie feiern Ostern ein Wochenende später als die Menschen in Deutschland. Es ist ein besonderes Fest für sie. „Gut für Neuanfang“, sagt Svitlana, bevor sie die Wohnung abschließt. Auf dem Nachhauseweg hält sie die Schlüssel in der Hand. Es fühlt sich gut an, sie zu spüren.
Drei Tage später ziehen sie um, ihre Anziehsachen haben sie in ein paar große Plastiktüten gepackt, auf dem Rücken tragen sie die Schulranzen der Kinder. In den letzten Tagen haben Helfer ein Sofa und ein Bett organisiert und aufgebaut, sowie das Kinderzimmer eingerichtet. Diana und Volodymyr sollen es schön in ihrem neuen Zuhause haben. Sie teilen sich ein Zimmer, Svitlana schläft im Wohnzimmer. Für den Zwölfjährigen hat man ein Star-Wars-Poster und HarryPotter-Bettwäsche besorgt, für seine Schwester eine Pferdedecke, Kuschelkissen und eine Lichterkette, die über dem Bett hängt. Als Diana in das fertige Zimmer kommt, hüpft sie sofort auf das Bett, rückt Kissen zurecht und drückt die Kuscheltiere an sich. Immer wieder entdeckt sie neue Sachen und zeigt sie begeistert ihrer Mutter. Das schöne Bild! Das süße Pferd auf der Decke! Der kleine Stoffhund, der auf Knopfdruck laufen kann! Svitlana sagt, dass sie ihre Tochter noch nie so erlebt hat. So aufgedreht. So glücklich. Selbst zuhause nicht.
Sie weiß selbst nicht, warum das so ist. Sie sucht nach den richten Worten, nach einer Erklärung, um das Unerklärliche zu erklären. Vielleicht, weil die Kinder hier mehr Freiheiten haben, weil sie überall mit ihren Rädern hinfahren können, selbst Diana alleine zur Schule gehen darf, was früher in einer Großstadt wie Kiew unmöglich war. Oder weil es hier mehr Aktivitäten gibt, mehr Sportmöglichkeiten, ein Gemeindezentrum. Oder weil alles so beschaulich ist, nahezu friedlich. Ein Stück heile Welt in einer Welt, die auseinanderzubrechen droht.
Die Diskrepanz zwischen altem und neuem Leben wird größer
Hier und dort. Frieden und Krieg. Sie und die Kinder in Sicherheit – ihr Mann und ihr Vater in Gefahr. Es ist, als ob ihre beiden Leben immer weiter auseinanderdriften, die Diskrepanz immer größer wird. Je glücklicher sie ist, umso mehr Schuldgefühle hat sie. „Während mein Leben von Tag zu Tag besser wird, wird das von meiner Familie und den Menschen in der Ukraine immer schlimmer“, sagt sie. Sie vermisst ihren Mann, ihren Schwiegervater und ihren eigenen Vater. Er ist Chirurg, arbeitet aber nicht mehr, sondern unterrichtet Studenten. Sie wünscht sich, dass er zu ihr kommt, hier lebt, aber er kann sich nicht vorstellen, seine Heimat zu verlassen. Sie hat auch mal so gedacht. Jetzt nicht mehr.
Als die Helfer mit ihr die Möbel für die neue Wohnung organisiert haben, hat sie sich ein Sofa zum Ausziehen gewünscht. Ihr Schwiegervater hat versprochen, sie bald zu besuchen, vielleicht schon nächste Woche. Knapp 1700 Kilometer sind es von Kiew nach Tangstedt, 18 bis 20 Stunden dauert die Fahrt, schätzt Svitlana. Ihr Schwiegervater will einmal auf der Strecke übernachten, im Auto. „Wie teuer ist Diesel?“, fragt Svitlana. Sie möchte ausrechnen, wie viel Geld sie für Sprit brauchen. Am Dienstag bekommt sie das nächste Mal Sozialhilfe ausgezahlt, mehr als beim letzten Mal. Aber dafür muss sie dafür jetzt selbst die Lebensmittel bezahlen. Jemand aus dem Hotel hat ihr erzählt, dass es in Norderstedt eine Tafel gibt, die Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Sie überlegt, ob sie dort hingehen soll.
Ihr Schwiegervater hat versprochen, ein paar Sachen aus der Heimat mitzubringen, die sie bei der überstürzten Flucht nicht mitnehmen konnten. Ein paar Anziehsachen von ihr, ein paar typische Lebensmittel. Und Brunek. Ein Kuscheltier, das sie vergessen haben. Der Hund gehört Volodymyr, es war sein Lieblingskuscheltier. Er sagt, dass er jetzt zu alt für Kuscheltiere ist.
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