Bei der Kundgebung auf dem Rathausmarkt wurde eindringlich die Willkommenskultur in der Stadt beschworen

Norderstedt. Am Morgen nach der Kundgebung für ein weltoffenes Norderstedt auf dem Rathausmarkt sitzt Sozialdezernentin Anette Reinders in ihrem Büro und sucht nach Lösungen, wie sie der Welle der Flüchtlinge aus aller Welt Herr werden kann. 600 Menschen, vielleicht noch mal 400 ihrer nachziehenden Verwandten, muss Reinders dieses Jahr irgendwie in der Stadt unterbringen. „Und ich möchte wirklich nicht mit dem Aufstellen von Zelten beginnen.“

In der Stadtvertretung am Dienstagabend wird sie der Politik verkünden, dass schleunigst ein neues Container-Asyl her muss. Das gerade eröffnete neben der Wache der Feuerwehr Friedrichsgabe ist in spätestens drei Monaten voll. Deswegen will die Stadt neben den Schlichtwohnungen an der Lawaetzstraße eine weitere mobile Unterkunft für etwa 100 Flüchtlinge errichten. „Richtig glücklich bin ich über diese Entscheidung nicht. Und die Friedrichsgaber werden mich dafür nicht gerade lieben“, sagt Reinders. Aber die Lage sei dramatisch. Allein im Januar und Februar sind in der Erstaufnahme in Neumünster dreimal so viele Flüchtlinge angekommen wie 2014. „Und diese Menschen werden bald bei uns ankommen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.“

Vorbereitet sein muss die Stadt auch darauf, dass mit jedem neuen Containerdorf die ausgeprägte Willkommenskultur in der Stadt einer Belastungsprobe unterzogen wird. Es hätte also keinen besseren Zeitpunkt für die Kundgebung am Montagabend auf dem Rathausmarkt geben können. Wolfgang Blankschein, ein Deutsch- und Philosophie-Lehrer des Coppernicus-Gymnasiums, hatte die Initiative ergriffen und fast alle sozialen, politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen der Stadt dafür gewonnen. Der Abend sollte ein sichtbares Signal an die Stadt und die Region für ein weltoffenes Miteinander sein. „Für Toleranz gegenüber Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen, für ein herzliches Willkommen von Flüchtlingen und Migranten und gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, wie Blankschein in seiner Rede betonte.

Die Zuhörerschar auf dem Rathausmarkt war mit vielleicht 250 Menschen überschaubar. In einer Stadt mit aktuell etwas über 77.000 Einwohnern waren das rein rechnerisch 0,3 Prozent der Bevölkerung. Doch Quantität spielte am Montag nicht die größte Rolle. Es war vielmehr die Qualität der gesprochenen Worte, die aus der Kundgebung einen fast schon beschwörerischen Appell an die Norderstedter werden ließ.

Überzeugend wirkte Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote in seinem Bekenntnis zur Vielfalt der Kulturen als Bereicherung in der Stadt. Die Weltoffenheit werde von den Ehrenamtlichen des Norderstedter Willkommen-Teams vorgelebt, das sich unermüdlich für die Integration der Flüchtlinge in der Stadt engagiere. „Für die Schaffung einer Willkommenskultur sind wir aber alle in der Stadt in der Pflicht. Wenn nicht wir als intakte Gesellschaft – wer sollte es dann schaffen?“ Diffuse Angstmacherei von Rechtspopulisten sei der Nährboden für das Extreme. „Wir müssen hingegen aufeinander zu gehen. Weg von diesem pauschalen Begriff Flüchtlinge. Wir müssen uns kennenlernen, uns unsere Namen erzählen und unsere Geschichte. Das schafft Verständnis und Respekt.“

Dafür warb auch der junge Syrer und Englisch-Student Mohammed Mustafa, geflohen über den Landweg aus der Stadt Aleppo und jetzt in Sicherheit in der Unterkunft am Buchenweg. „Ich wollte Terror, Gewalt und Krieg entkommen. Ich bin hier, weil ich will, dass mein Leben weitergeht, dass ich mein Studium beenden kann. Und es macht mich traurig, wenn ich höre, dass manche Menschen glauben, wir Flüchtlinge würden stehlen, wollten Böses oder nur an Geld kommen.“

Mustafa wäre vielleicht froh, wenn es ihm so ergangen wäre wie Dariush Hasanpour. Zurzeit steckt der 18-Jährige mitten in den Abitur-Prüfungen auf dem Coppernicus-Gymnasium. Die Eltern des Norderstedters flohen vor 30 Jahren aus dem Iran. „Und hätte mein Vater diesen Mut nicht aufgebracht, dann würde ich heute hier nicht stehen. Ich bin Deutscher und habe eine Zukunft.“ Hasanpour sieht diese Zukunft allerdings gefährdet. „Durch den unverhohlenen Hass in den Augen derer, die gegen Menschen, die Krieg und Schlimmes erlebt haben, auch noch hetzen.“ Von Parteien, die von „entarteter Demokratie“ reden und der Angst vor der Islamisierung. „Ich bekomme Angst, wenn ich nachts in Garstedt ,Sieg Heil!’-Rufe höre. Oder Nazis ganz selbstverständlich mit 88-Logo auf der Tasche herumstehen sehe.“ Die 8 steht für das H, den achten Buchstaben im Alphabet, 88 also für Heil Hitler.

Es waren aufrüttelnde Worte, die der junge Deutsche mit iranischen Wurzeln sprach, die daran erinnerten, dass sich der aufgeklärte, weltoffene Teil der Stadt nicht zu sicher sein sollte, dass die Willkommenskultur allein von denen getragen werden kann, die sich jetzt schon engagieren. „Auch 70 weitere Kundgebungen können nichts am alltäglichen Rassismus ändern, den ich erlebe“, sagt Hasanpour. „Dass Menschen zu mir sagen: ,Du sprichst aber gut Deutsch!’ oder dass Frauen im Bus hektisch ihre Handtasche an sich reißen, wenn ein Migrant einsteigt.“ Wie es Oberbürgermeister Grote sagte: Integration ist eine Herkulesaufgabe.