Im Winter 1944/45 setzte die große Flucht aus dem Osten ein. Eine Million Menschen suchte in Schleswig-Holstein eine neue Bleibe, der Wohnraum war knapp. Oft wollten Einheimische keine Flüchtlinge aufnehmen. Auf einem Bauernhof in Götzberg fanden sich aber auch Freunde fürs Leben

Henstedt-Ulzburg. „Wenn du Sauerfleisch kochst, dann muss die Nase brennen.“ Diesen Spruch ihrer Mutter Helene hat Renate Gülk, 75, nicht vergessen. Schon als fünfjähriges Mädchen schaute sie ihr zu Hause in Natelfitz/Kreis Regenwalde in Hinterpommern beim Kochen, Braten und Backen in der Küche aufmerksam zu.

Schwarzsauer, Sauerfleisch, Leber-, Grütz-, Blut- und Sardellenwurst, Kartoffelsalat und Griebenschmalz – das waren kulinarische Klassiker. „Die Rezepte habe ich heute noch alle im Kopf“, versichert Renate Gülk. Im Keller ihres Hauses sind die Regale voll mit selbst gemachten Pommern-Spezialitäten.

Im Januar 1945, als die russischen Armeen mit ihrer Schlussoffensive in Richtung Berlin begannen, packte Helene Krauthäuser das Notwendigste zusammen und kletterte mit Oma, Tante sowie den Kindern Renate, Ursula, Marga und Klaus auf einen offenen Leiterwagen. Auf dem Kutschbock saß ein polnischer Landarbeiter.

Dann ging es ab in Richtung Westen. Erst über das Stettiner Haff, dann in einem Güterzug weiter, die Angst vor den Russen immer im Nacken. Sie versteckten sich in den Wäldern, fuhren über Lüneburg ins abgebrannte Hamburg und von dort mit dem Vorortzug zu Verwandten nach Halstenbek. Dort kamen sie nach langer Irrfahrt im März an. Die siebenköpfige Familie fand in einem Kellerraum eine Bleibe. Hier bauten sie sich im Laufe der Jahre eine neue Existenz auf.

Dem Landwirt Heinz-Georg Gülk aus Götzberg ist Renate viele Jahre später begegnet. Frisch verliebt, lernten sie sich näher kennen, 1970 standen sie in der Henstedter Erlöserkirche vor dem Traualtar. Vier Kinder und sechs Enkel haben sie heute.

Die Zahl der Kriegsflüchtlinge in Ulzburg, Henstedt und Götzberg war besonders groß. „Die Stimmung der Bevölkerung ist ernst und gefasst“, schrieb im Oktober 1945 der Amtsvorsteher von Henstedt an den Landrat des Kreises Segeberg. „Es bereitet nicht nur den Behörden, sondern jedem einzelnen Besitzer Sorge um die Unterbringung der Flüchtlinge, da zur Zeit Herde und Öfen fehlen, um warme Stuben und Kammern zu schaffen. Auch fehlt es an Betten und Zubehör, besonders an Strohsäcken.“

In Götzberg – hier war nach dem Krieg jeder Zweite ein Flüchtling – ging Georg Gülk, insgesamt 18 Jahre Bürgermeister (bis 1949 und ab 1956), energisch gegen Hunger und Wohnungsnot vor. Der passionierte Jäger hatte die Aufgabe, Flüchtlinge auf Höfe und Häuser zu verteilen.

„Für meinen Vater war das keine leichte Aufgabe“, erinnert sich Heinz-Georg Gülk, 70, heute Altenteiler auf dem Hof. „Manche Bauern weigerten sich, Flüchtlinge aufzunehmen, andere wollten, wenn überhaupt, nur Familien ohne Kinder haben. Aber es ging nicht nach ihren Wünschen.“

Georg Gülk hatte ein Herz für die Menschen aus dem Osten, die ihr Hab und Gut verloren hatten. Auf seinem Hof, auf dem 650 Jahre alte Eichen standen, fühlten sie sich, auch wenn der Wohnraum auch hier begrenzt war, wohl. In Götzberg hieß es: Für die Menschen aus dem Osten schaffen wir immer Platz!“

Zum Beispiel für den „Alten aus Pommern“, den die Gülks „Sabbel-Meyer“ nannten, weil er pausenlos redete. Mehrere Jahre wohnte seine Familie bei Georg Gülk, und Tochter Waltraut, damals 16 oder 17 Jahre alt, kümmerte sich liebevoll um die Kinder des Bürgermeisters. Ihr Bruder Kurt lernte die auf dem Hof beschäftigte Irma Delfs kennen und lieben, Anfang der 50er-Jahre heirateten sie in Quickborn. Sie haben das Geschäft „Fisch-Meyer“ aufgebaut, das heute noch existiert und das für seine erstklassige Ware bekannt ist.

„Viele Freundschaften haben sich in unserem Umfeld entwickelt, manche haben die Nachkriegszeit überdauert“, sagt Heinz-Georg Gülk, seit 1970 Hofbesitzer. Mit Friedrich Schmei und seiner Familie, die nebenan in einer Scheune lebte, haben sie sich sehr gut verstanden.

Später, als Schmei nach Düsseldorf zog, ist die Verbindung nicht abgerissen. Er kam oft zu Besuch, auch zum 70. Geburtstag von Georg Gülk. „Wir haben es in Götzberg sehr gut gehabt“, erzählte er immer wieder. Sohn Christian hält heute noch Kontakt.

Auch Bodo Wege, der 1945 mit Frau, zwei erwachsenen Kindern und 16 Pferden aus Masuren kam, war nach kurzer Zeit voll integriert. „Als Bodo sich später an der Alsterquelle ein Haus baute, haben mein Vater und ich ihm das Fundament geschüttet“, berichtet Heinz Georg. „Unser Hof war Sammelpunkt vieler Begegnungen von Einheimischen und Flüchtlingen.“

Seitdem hat Bürgermeister Gülk viele Dokumente aus früheren Zeiten und jüngerer Vergangenheit gesammelt und aufbewahrt. Sein Sohn Heinz-Georg hat die Unterlagen in mühevoller Kleinarbeit gesichtet und zusammen mit Co-Autor Jonny Steenbock und einer Arbeitsgruppe der Gemeinde Henstedt-Ulzburg um Volkmar Zelck und Ulrike Riemenschneider die „Ortsgeschichte Götzberg“ erstellt und herausgegeben.