Im Winter 1944/45, wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges, setzte die große Flucht aus dem Osten ein. Als Junge kam Heinz Wittkowski aus der Nähe von Danzig nach Ulzburg. Die Flucht wird er niemals vergessen

Henstedt-Ulzburg. „Hier haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg gewohnt“, sagt Heinz Wittkowski, 77. Er hat sich für diesen Tag mit seinem jüngeren Bruder Horst, der in Norderstedt wohnt, vor dem Gebäude mit der Hausnummer 8 in der Maurepasstraße (früher Henstedter Straße) verabredet. Heute ist es ein modernes Wohn- und Geschäftshaus, vor 70 Jahren war es eine Scheune. Die Brüder wollen ein bisschen über die Vergangenheit reden.

An einer Seitentür klingeln sie. Die Hausbesitzerin, eine freundliche alte Dame, öffnet. Heinz erzählt ihr, dass seine Familie hier früher gelebt habe und ob sie drinnen in Erinnerung schwelgen dürfen. „Ja natürlich, kommen Sie gerne herein.“

Links eine kleine Küche, daneben ein Abstellraum, nur drei bis vier Quadratmeter groß. „In dieser Kammer haben wir mit sechs Personen, darunter fünf Kinder, geschlafen“, erinnert sich Heinz Wittkowski. Er hat einen Zettel in der Hand, darauf hat er viele Namen notiert: Schröter, Dittkowski, Bensch, Will, Pruess und weitere. 48 Flüchtlinge – insgesamt zehn kinderreiche Familien - haben ab Februar 1946 unter teilweise unwürdigen Umständen in dem Schuppen gewohnt.

Heinz Wittkowski wurde im November 1945 als Kind mit seinen Geschwistern und einer sie betreuenden Hausangestellten vom elterlichen Bauernhof in Krampitz unweit von Danzig vertrieben. „Die Reise in den Westen war der reinste Horror“, erzählt er. Sie wurden in Viehwagen verladen, die Richtung Mecklenburg/Vorpommern fuhren. Kein Essen, kein Wasser, kein Platz für die Notdurft.

„Einmal wurden für drei Tage die Türen verriegelt, dann brüllten die Menschen in den Waggons wie die Tiere und dachten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.“ Nach einer endlosen Odyssee fand die Familie in Ulzburg eine neue, vorläufige Bleibe.

„Es tauchten sofort erhebliche Probleme auf, denn wir hatten keinen Versorger“, erinnert sich Heinz Wittkowski. „Unser Vater war in Kriegsgefangenschaft, unsere Mutter Hedwig 1944 an einem Blinddarmdurchbruch verstorben. Tante Martha hatte sich während der Flucht als ihre Mutter ausgegeben, sonst wären die Kinder wahrscheinlich in ein polnisches Heim gekommen.

Die Gemeinde Ulzburg sorgte mit einer kleinen Rente und Lebensmittelmarken dafür, dass die Kinder überleben konnten, die Fürsorgestelle des Deutschen Roten Kreuzes übernahm die Aufsicht. Als Paul Wittkowski aus der Gefangenschaft kam, fand er zunächst keine Arbeit. Später arbeitete er als Knecht bei Bauer Reinke in Westerwohld – für Kost und Logis, für Milch, Kartoffeln und ein wenig Getreide.

„Wir Kinder mussten auf dem Feld mitarbeiten“, sagt Heinz Wittkowski, „Rüben hacken und Kartoffeln sammeln. Manchmal haben wir, wie viele andere Flüchtlinge, das auch nachts getan und sind nicht selten erwischt worden. Aber der Hunger war so groß.“ Er erinnert sich: „Einmal wurden wir von einer Frau Langbehn beim Stehlen von Kartoffeln erwischt, wir hatten zwei Stauden ausgegraben. Beim Warten auf die Polizei hatten wir große Angst. Doch wir durften fortan jeden Abend bei Frau Langbehn zum Essen kommen. Das habe ich ihr nie vergessen.“

Die Schule war Nebensache. „Lehrer Wulff teilte uns mit, dass wir älteren Schüler das Klassenziel wohl nicht erreichen würden“, so Wittkowski. „Doch er war ein netter Mann, er verzichtete auf seinen Urlaub und brachte uns innerhalb kurzer Zeit den Stoff von einem Jahr bei.“ Später hat Heinz das Hamburger Abendblatt und die „Hör Zu“ ausgetragen und ein paar Mark hinzuverdient.

Von 1953 bis 1956 hat er, weil er handwerkliches Talent hatte, eine Maurerlehre absolviert. Von da an ging es bergauf. Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten erhielten nämlich als Entschädigung für den verlorengegangenen landwirtschaftlichen Besitz einen sogenannten Lastenausgleich.

„Mein Vater bekam 20.000 Mark“, erzählt Heinz, „das reichte für ein Grundstück von 1450 Quadratmetern mit Haus nach Kieler Modell im Kronskamp. Alles, was nicht im Modell enthalten war, musste in Eigenleistung erbracht werden. Der Keller wurde per Hand ausgehoben und selbst gemauert, auch der Dachausbau musste selber gemacht werden. Das funktionierte, weil alle Geschwister einen handwerklichen Beruf erlernt hatten.“

Auf der anderen Straßenseite baut die Firma Manke heute trotz vieler Proteste von Nachbarn ein Mehrfamilienhaus. „Es war eine harte Zeit, aber wir haben uns gemeinsam durchgekämpft“, sagen Heinz Wittkowski und Ehefrau Elke. Sie sind seit Langem Mitglieder der Schützengilde und waren beide schon Schützenkönige.

Die Integration nach der Kriegszeit ist trotz aller Schwierigkeiten gelungen“, sagt Heinz Wittkowski. „Meine Geschwister und ich sind stolz auf das, was wir in unserer neuen Heimat erreicht haben.“

Im Masurenweg, Ortsteil Henstedt, haben sich Heinz und Elke – wieder mit eigenen Händen – ein schmuckes Einfamilienhaus gebaut, in dem sie heute wohnen. Zur Hausnummer 8 in der Maurepasstraße, wo vor 70 Jahren alles begann, und zu ihrem ersten eigenen Haus im Kronskamp ist es nur ein Katzensprung.