20 Jahre ist es her, dass ein bis heute unbekannter Fahrgast den Taxifahrer Horst Gnegel erschoss

Einmal im Jahr schmerzt die Erinnerung besonders. Die Gedanken an ihren Sohn und die Trauer um ihn sind im Leben von Ingeborg Gnegel stets präsent, doch am 24. Februar kehrt der Schrecken mit besonderer Wucht zurück. Dann jährt sich jener Tag, an dem der 29-jährige Horst Gnegel aus Henstedt-Ulzburg in seinem Taxi getötet wurde. 20 Jahre ist es her, dass ein bis heute unbekannter Fahrgast Gnegel mit mehreren Schüssen umbrachte und flüchtete. Bis heute fragen sich die Familie und die Polizei: Wer waren diese Männer? Und warum musste Horst Gnegel sterben? Ingeborg Gnegel lebt seit 20 Jahren mit der Trauer und den immer wiederkehrenden Fragen. Das Hamburger Abendblatt hat mit ihr gesprochen.

Die 75-Jährige spricht mit leiser, aber fester Stimme über den Abend des 24. Februar 1995. Darüber, dass die Tochter schreiend nach Hause kam und rief „Horst ist tot!“. Darüber, dass ihr schwer herzkranker Mann zusammenbrach. Und darüber, dass kurz darauf Kriminalbeamte die entsetzliche Nachricht bestätigten. „Die Kripo und der Notarzt waren gleichzeitig in unserem Wohnzimmer“, sagt Ingeborg Gnegel. Auch ihre Tochter musste behandelt werden, der Schock saß tief. Und die Mutter? „In diesem Moment habe ich eine Mauer um mich herum gezogen“, sagt Ingeborg Gnegel. „Ich konnte nicht weinen, ich musste funktionieren.“ Sie habe wahrgenommen, was geschehen war. „Und dann war da die große Sorge um die Kinder und meinen Mann.“

Zeugen berichten später, zwei dunkel gekleidete Männer hätten das Taxi von Horst Gnegel am Abend an der Bushaltestelle Birkenhof zu sich herangewunken. Vermutlich waren es die Mörder des 29-Jährigen, der tagsüber in der Paracelsus-Klinik arbeitete und abends als Aushilfsfahrer Geld hinzuverdiente. Was während der Fahrt in dem VW Passat geschah, gibt der Kripo bis heute Rätsel auf. Gegen 21.45 Uhr hört ein Bauer an der Bundesstraße 433 im Bereich Kisdorf-Feld Schüsse. Draußen sieht er, dass zwei Männer in Richtung Kaltenkirchen davonlaufen. Er ruft die Polizei.

An der Straße steht das Taxi, Horst Gnegel ist tot. Neben ihm liegt sein Portemonnaie. Offensichtlich haben die Täter das Geld nicht angerührt. Später stellen die Ermittler fest, dass Gnegels Gaspistole fehlt, die er sich zu seinem eigenen Schutz angeschafft hatte – die einzige Beute der Mörder. Die Polizei vermutet, dass die unbekannten Männer vom Tatort in die 800 Meter entfernte, gut besuchte Diskothek Traffic geflüchtet sind. Die Polizei fürchtet, dass die Täter auf der Tanzfläche ein Blutbad anrichten, wenn sie sich von der Polizei in die Enge getrieben fühlen.

Die Einsatzleitung entscheidet sich für einen Trick: Beamte in Zivil locken drei Verdächtige unter einem Vorwand nach draußen. Polizisten warten vor dem Gebäude. Sie durchsuchen die Männer, doch eine Waffe finden sie nicht. Die Männer dürfen gehen. Ob die Täter Gnegel berauben wollten, ist bis heute ungewiss. Zwei Wochen später wird Gnegel beigesetzt. 250 Menschen nehmen Abschied, 40 Taxis mit Trauerflor folgen dem Trauerzug.

Den Tätern hat sie verziehen. Ohne den Glauben hätte sie das nicht geschafft

„In dem Jahr waren bereits fünf Taxifahrer in Deutschland ermordet worden“, sagt Ingeborg Gnegel. „Und es war erst Februar.“ Doch diese Gedanken haben sie damals nicht beschäftigt. Die Tochter stand in der Schule kurz vor den Prüfungen, Ingeborg Gnegel leitete eine Kinderkrippe, sie kümmerte sich um ihren Mann. Ingeborg Gnegel löste die Kinderkrippe nach und nach auf. „Die Kinder haben das Recht, eine fröhliche Tagesmutter zu haben“, sagt sie.

Sie „funktionierte“ trotz des Todes ihres eigenen Kindes, wie sie sagt. Bis das ZDF den Fall in der Sendung „Aktenzeichen XY...ungelöst“ im Oktober 1995 nachstellte. Einen Tag später brach Ingeborg Gnegel auf einem Supermarktparkplatz zusammen. Sie weinte. Viele Hinweise gingen nach der Sendung bei den Ermittlern der Mordkommission ein, doch die heiße Spur war nicht dabei.

Seit ihrer Kindheit besucht Ingeborg Gnegel regelmäßig ihre Kirchengemeinde St. Petrus im Ortsteil Rhen. Auch nach dem Tod ihres Sohnes arbeitete sie weiter. 1996 organisierte sie ein Gemeinschaftsessen, das von vielen Besuchern genutzt wird, die nicht gerne allein essen. Sie engagierte sich im Barmherzigkeits-Team der Kirchengemeinde und stellte insgesamt 13 große Kinderfeste auf die Beine. Im Jahr 2005 wurde sie die erste Trägerin des Bürgerpreises der Gemeinde. „Der Glaube und eine funktionierende Familie – das sind bis heute für mich die großen Kraftquellen“, sagt sie.

Den Tätern hat sie inzwischen verziehen. Ohne den Glauben hätte sie das nicht geschafft, sagt die 75-Jährige und fügt hinzu: „Es gibt mehr als das irdische Leben.“ Dennoch hofft sie weiter, dass die Mörder eines Tages gefasst werden. „Irgendwann werden sie gefunden, sie sollen ihre gerechte Strafe bekommen – auch deshalb, weil sie dann keine weitere Straftaten begehen können“, sagt sie. Ob die Täter gefasst werden, sei für die Trauer jedoch unbedeutend. Sie bleibe.

Hass habe sie nie empfunden, sagt die 75-Jährige. Dieses Gefühl hätte sie als „Untergang“ empfunden; auch ihre Familie denke so. Bereits bei der Trauerfeier hatte Ingeborg Gnegel ausdrücklich darum gebeten, nicht über Rache zu sprechen.

In der Kirchengemeinde findet die Mutter des toten Taxifahrers die Gesprächspartner, die sie in den Stunden braucht, wenn sie reden muss. „Die Gedanken dürfen nicht kreisen“, sagt sie. Inzwischen hat sie aufgegeben, über das Motiv der Mörder zu grübeln: „Das führt zu nichts, es nimmt mich gefangen.“ Zum Friedhof geht sie manchmal allein. Manchmal freut sie sich über einen Menschen, der sie begleitet. Einen Begleiter zu finden, ist kein Problem. Die Familie und der Freundeskreis sind groß.

Im Wohnzimmer der Familie Gnegel steht ein Bild mit einem Sinnspruch: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Ingeborg Gnegel schaut jeden Tag auf das Bild.