Gnadenlos offen: Deutschlands bekanntester Strafverteidiger las in Norderstedt aus seinem Buch, das er über den Fall Gustl Mollath geschrieben hat

Norderstedt. Etwas missmutig steht Rechtsanwalt Gerhard Strate im Arriba-Strandhaus am Norderstedter Stadtparksee; die Situation gefällt ihm nicht so recht. Schuld ist ein Sessel. Zum schwarzen Anzug trägt der 64-jährige Hamburger blaues Einstecktuch, blaue Krawatte – und blaue Adidas-Turnschuhe. Zu Hamburger Studienzeiten war Strate Mitglied im Kommunistischen Studentenverband, mittlerweile ist er Deutschlands bekanntester Strafverteidiger.

Gerhard Strate hat den Terroristen Mouni al-Motassadeq verteidigt und die Manager der HSH Nordbank verklagt. An diesem Freitagabend ist der Rechtsanwalt zu Gast im Arriba-Strandhaus, der Grund dafür ist Gustl Mollath. Siebeneinhalb Jahre saß Mollath in der geschlossenen Psychiatrie in Bayern, erst Strate paukte ihn heraus. Mollaths Schicksal bewegte ganz Deutschland. Jetzt hat Strate den Fall in einem Buch dokumentiert: „Der Fall Mollath: Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie“ ist seine ganz persönliche Abrechnung, der Fall für ihn ein Justizskandal.

In einer Verhandlung, das ist Strates Devise, dürfe man sein Anliegen niemals aus dem Blick verlieren – wie ein Adler, der langsam über seiner Beute Kreise ziehe. Strates Anliegen ist das Norderstedter Publikum, gleich zu Beginn droht er es aus den Augen zu verlieren: Strandhaus-Betreiber Aydin Farhadi hat ihm einen ziemlich edel aussehenden Sessel hingestellt, Strate aber sitzt darin so tief, dass er die Leute in den hinteren Reihen nicht mehr sehen kann. Schließlich bekommt er einen höheren Stuhl und einen Tisch, es kann losgehen.

Strate ist ein Mann klarer Worte, das wird den Zuhörern schnell klar: „Die bayerische Justiz ist für einen normalen, rechtsstaatlich denkenden Anwalt ein Kulturschock“ sagt er. Polemisch, bisweilen mit feiner Ironie, aber immer juristisch korrekt seziert Strate den Fall Gustl Mollath, der auch gleichzeitig ein Ehedrama ist: Im August 2003 wird Mollath von seiner Frau wegen Körperverletzung angezeigt. Er soll sie geschlagen, getreten, gebissen und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt haben. Mollath streitet ab und vermutet, seine Ex-Frau habe ihn mundtot machen wollen, um zu verhindern, dass er die „größte, wahnsinnigste Schwarzgeldverschiebung von Deutschland in die Schweiz“ in Milliardenhöhe aufdeckt. So beginnt der jahrelange Kampf vor Gericht.

Insgesamt siebeneinhalb Jahre verbringt Mollath in der Psychiatrie, die Gutachter halten ihn für wahnhaft. Am Ende wird er freigesprochen, ihm steht nun eine Entschädigung zu. Trotzdem glaubt das Gericht, dass er seine Frau geschlagen hat. Es sei lediglich nicht auszuschließen, dass er zur Tatzeit aus psychischen Gründen schuldunfähig gewesen sei. Es ist ein Freispruch dritter Klasse.

Zwei Jahre, 1500 Stunden lang, habe er an dem Fall gearbeitet, sagt Strate. Gratis, wie er beteuert. „Mollath zahlte keinen Cent.“ Lediglich die Filmrechte habe er sich vorher gesichert. Strate liest aus seinem Vorwort und den ersten Kapiteln, er zitiert Goethe und Kant, man selbst denkt an Kafka. Zwischendurch erzählt er von Mollath, unfähigen bayerischen Richtern und Psychiatern mit Allmachtsphantasien. Die meisten Details des Falls kennt Strate auswendig, von Beginn an hat er die rund 80 Gäste auf seiner Seite.

Aydin Farhadi gefällt das, Strate ist für den Betreiber des Strandhauses so etwas wie ein Versuchskaninchen. Die Lesung des bekannten Anwalts ist die erste im Arriba-Strandhaus, sie soll aber der Auftakt sein für eine ganze Reihe von ähnlichen Veranstaltungen. An jedem letzten Mittwoch im Monat werden die Lesungen künftig stattfinden. Der nächste Gast ist schon angefragt. Das Strandhaus soll so als Location auch für Kultur und Literatur etabliert werden. Bisher ist vor allem der After-Work-Club mit DJs und Live-Bands ein Erfolg. Unrealistisch ist Farhadi in seinen Plänen nicht, er weiß: „Es ist Norderstedt, wir müssen einen langen Atem haben.“

Strate zeichnet ein schreckliches Bild von Richtern und Gutachtern

Dass gleich der erste Abend ein Erfolg wird, liegt am Gast. Strate nennt Ross und Reiter, befeuert dabei auch das latente Gefühl einer übermächtigen Justiz, der man als Bürger bisweilen hilflos ausgeliefert sei. In seinen Ausführungen zeichnet er ein wahrlich schreckliches Bild von Richtern und den psychiatrischen Gutachtern. Die Richterin habe das erste Urteil übereilt verfasst, sagt Strate, ihre Urlaubsreise habe unmittelbar bevorgestanden. Auch die forensischen Psychiater hätten ganz normale Verhaltensweisen zu Mollaths Nachteil ausgelegt. Strates Fazit: „Viele Justizjuristen kümmern sich nur noch einen feuchten Kehricht um das, was im Gesetz steht. Sie machen munter mit bei der Entrechtung von Menschen.“

Die meisten Gäste stimmen ihm zu. „Nach dem, was Sie heute erzählt haben“, sagt eine Zuhörerin zum Schluss, „da ist doch alles möglich, oder?“ „Ja“, sagt Strate. Stille. Und dann: „Das war keine unbedachte Aussage.“