25 Jahre Mauerfall: Diakon Christian Braun reiste mit jungen Christen regelmäßig in die DDR. Jahrzehnte später liest er zum ersten Mal die Spitzelberichte

Christian Braun hat den Kopf auf beide Hände gestützt. Manchmal nimmt er die Brille ab, reibt sich die Augen und blickt dann wieder auf seine Lektüre. Stapelweise liegen Kopien auf dem Tisch. Alle tragen den Stempel mit der Aufschrift BStU; die Abkürzung steht für den „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“. Christian Braun will seine Akten sehen. Der 53-jährige Diakon will nach Jahrzehnten wissen, wie er ausspioniert wurde und was die Stasi über ihn schrieb, als er regelmäßig Ende der 80er-Jahre mit einer Jugendgruppe der evangelischen Kirchengemeinde Bad Bramstedt in die DDR reiste. Jetzt sitzt er im Lesesaal der BStU-Außenstelle Rostock. Das Hamburger Abendblatt hat ihn begleitet.

„Ich bin überrascht und entsetzt“, sagt Braun schon nach einem ersten Blick in die Papiere. „Wir haben damit gerechnet, überwacht zu werden. Aber wie detailliert vorgegangen wurde – das macht mich fassungslos.“ Der Diakon aus Klein Gladebrügge bei Bad Segeberg nimmt den „Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle“ vom 12. März 1987 zur Hand. Die Operation der Staatssicherheit trägt den Decknamen „Partnergruppe“. Die einzige Person, um die es der Stasi dabei ging, ist Christian Braun.

„Ich wollte den jungen Menschen im geteilten Deutschland zeigen, was uns im Glauben verbindet“, sagt der Diakon über seine Reisen mit den jungen Christen aus Bad Bramstedt nach Schwerin und in andere Orte der DDR. Die Staatssicherheit vermutete jedoch ganz andere Motive. „Planung provokativer Aktionen und Durchführung massenwirksamer Veranstaltungen mit feindlich negativen Zielstellungen“ – so bewerteten die Spitzel von Stasi-Chef Erich Mielke die Treffen im zweiten deutschen Staat.

Braun war wie sein Vorgänger Peter M. mit jungen Menschen regelmäßig nach Schwerin gefahren. Die Gruppe aus Bad Bramstedt traf sich mit Gleichgesinnten im Paulskirchenkeller zum gemeinsamen Beten, Singen und Diskutieren über Hochrüstung und die Bergpredigt. Manchmal gingen sie in eine Disco. Etwa zehn junge Menschen gehörten zu der Schweriner Gruppe. „Wir haben offen geredet und ihnen vertraut“, sagt Braun. Doch aus den Akten geht hervor, dass mindestens drei Gesprächspartner Zuträger der Staatssicherheit waren.

Besonders engagiert arbeitete der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) „Mike“. Die Stasi hatte ihn als 15-Jährigen in der Schule angeworben. Selbst nach dem Mauerfall schrieb er weiter Berichte. Erst 1990 stellte der Schweriner seine Arbeit ein. „Mike“ war kein gewöhnlicher IM. Er trug die Bezeichnung IMB. So nannte die Staatssicherheit Inoffizielle Mitarbeiter mit „Feindverbindung“. „Mike“ schrieb Berichte, sprach mit seinem Führungsoffizier und spionierte aus, wann die nächsten Treffen in Schwerin geplant war. Wichtigste Informationsquelle war der Leiter der offenen Jugendarbeit in der Schweriner Kirchengemeinde, Claus W. Der IM scheute sich nicht, unbemerkt W.s Schreibtisch zu durchsuchen. In einem Bericht vom 6. September 1984 heißt es: „Am 4.9.84 konnte der IMB aus W.s Unterlagen im Büro der evangelischen Jugendarbeit die geplanten Einreisen der leitenden haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter der sozialdiakonischen Jugendarbeit Bad Bramstedt…ermitteln.“ Penibel listete „Mike“ die sieben Namen inklusive Adressen und Beruf auf.

Die Gruppe pflege enge Kontakte zur Partnergemeinde St. Pauls in Schwerin, insbesondere zu „feindlich negativen, kirchlich-klerikalen Kräften“. Weiter schrieb „Mike“: „Diese Kontakte werden u.a. in Form von Ost-und-West-Partnerschaften in Verbindung mit illegalen Arbeitstreffen durchgeführt.“ „Mike“ wusste, bei wem die Gäste zu Mittag aßen, dass sie über das Buch „Friede ist möglich“ von Franz Alt diskutierten und wann die nächste Reise der Bramstedter auf dem Programm stand.

„Mike“ berichtete außerdem ausführlich von Besuchen junger Bramstedter Christen in Ost-Berlin, die sich mit ihren Freunden aus Schwerin im Mai 1984 in der Samaritergemeinde bei Pastor Rainer Eppelmann trafen. Eppelmann war Oppositioneller und wurde nach der Wende zum Minister für Abrüstung und Verteidigung in der letzten DDR-Regierung ernannt. „Mike“ war stets dabei, berichtete über „sehr schlecht“ vorbereitete Gespräche und gab wörtlich wieder, wie seine Landsleute über die marode Versorgungslage und die Privilegien der Funktionäre in der DDR wetterten. Zum Schluss notierte „Mike“: „Gegen Abschluß dieser Absprache begab man sich geschlossen zum Tasso-Eck, wo man bis zum Gaststättenschluß ein allgemeines Besäufnis veranstaltete.“

„Mike“ war auch dabei, als am Tag danach die Bramstedter und Schweriner Jugendlichen in Richtung Brandenburger Tor gingen. Der Personenkreis habe sich provozierend verhalten und auf Absperrungen gesetzt, bis eine Streife der Volkspolizei die Personalien kontrollierte, schreibt er seinem Führungsoffizier.

Die Stasi forschte Brauns Aktivitäten nicht nur in der DDR aus, sondern auch in West-Deutschland – allerdings mit teilweise skurrilen Ergebnissen, die in seinen Akten nachzulesen sind. Die Stasi hatte erfahren, dass die Diakonie-Zentrale in Hamburg die Schweriner Gruppe mit 300 D-Mark unterstützen wollte und fürchtete eine „finanzielle Stimulierung“ der Schweriner Kirchenarbeit, die möglicherweise auf eine „geheimdienstliche Steuerung“ schließen lasse. Um sich ein möglichst lückenloses Bild von der Diakonie zu machen, besuchte ein Späher im April 1987 die Diakonie-Zentrale in Hamburg. „Bei dem Haus handelt es sich um einen dreigeschossigen Backsteinbau (Klinker) mit schmalen Fenstern“, schreibt „Heiner“. Er beschreibt die Nebengebäude und die wenig belebte Straße – mehr nicht. Auch „Felix“ berichtete aus dem Westen und lieferte aus dem Jugendpfarramt auf dem Koppelsberg bei Plön Informationen über die Kontakte zur Schweriner Gemeinde. „Felix“ wusste genau, wen er dort ansprechen musste. Seine arglose Gesprächspartner kannte alle Ost-West-Kontakte der Gemeinden.

Im Lesesaal in Rostock erfährt Braun außerdem, wie genau er an den Grenzkontrollstellen beobachtet wurde. Der Tacho seines Fords zeigte am 2. Dezember 1985 den Kilometerstand 9174. Braun hatte eine Hose, einen Fön und zwei Bücher dabei. Die Titel sind aufgelistet: „Herr der Fliegen“ und „Irren ist menschlich“. Auch die Tüte mit Obst entging den Beobachtern nicht. Ausführlicher interessierte sich die Stasi für ein Buch, das Braun bei einer Einreise am 27. September 1986 dabei hatte. Der Titel: „Störungen und Klärungen – Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation“. Der Bericht der Grenzer erstreckt sich über eine ganze Seite.

Ein Jahr später gingen Späher und Spitzel noch einen Schritt weiter. Die Staatssicherheit gab ein „Fahndungsersuchen“ an alle Grenzübergangsstellen heraus. Wenn Christian Braun nach West-Berlin fährt oder in die DDR einreist, sollten ab dem 9. April 1987 sämtliche Papiere dokumentiert, die Daten der Mitreisenden festgehalten und die kompletten Angaben über die Reisezeiten erfasst werden. „Information sofort telefonisch“, heißt es militärisch knapp in dem Fahndungsersuchen. Und weiter: Braun unterstütze in Schwerin „Untergrundaktivitäten“.

Braun nimmt die letzten Kopien vom Stapel. Am 18. September 1988 beendet die Stasi die Operation „Partnergruppe“. Offenbar hielten die DDR-Behörden den Diakon aus Bad Bramstedt zu diesem Zeitpunkt nicht mehr für so gefährlich wie einst. Nach „anfänglich recht umfangreichen negativen Aktivitäten“ gingen jetzt von Braun nur noch sporadisch Initiativen zur Belebung der Jugendarbeit in der Schweriner Gemeinde aus, schrieben zwei Offiziere. Die Stasi hakte den Vorgang jedoch nicht endgültig ab. Brauns Aktivitäten und Verbindungen sollten weiter kontrolliert werden. Ein Jahr später begann die friedliche Revolution.

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR und der Staatssicherheit plant Braun weiterzuforschen. Er will weitere Akten einsehen, um offene Fragen zu klären: Wer war „Mike“? Wer war der Mann, der zu den jungen Christen aus Schwerin gehörte und perfekt seine Rolle spielte? Und wer war „Felix“? Wie lautet die richtigen Namen dieser Inoffiziellen Mitarbeiter? „Ich lasse die Namen entschlüsseln“, sagt Braun. Dann wird er wieder im Lesesaal in Rostock sitzen und jahrzehntealte Akten lesen, in denen sein Name steht.

In der letzten Folge der Serie lesen Sie, wie Norderstedt sich auf den Atomkrieg vorbereitete.