Das bundesweite Modellprojekt bleibt bisher Theorie. Bauherren sind enttäuscht. Stadt ist vom Erfolg überzeugt

Norderstedt. Es war ein Vorzeigemodell der Energiewende, eins, das der Stadt einen Nachhaltigkeitspreis eingebracht hat und eins, mit dem Norderstedt bundesweit sein innovatives Image aufpoliert hat: das Solardorf Müllerstraße. Doch die Vision, wonach sich die Dorfbewohner energetisch weitgehend selbst versorgen, ist bisher in den Kinderschuhen stecken geblieben. Wesentliche Komponenten des Solarpaketes, das die Bauherren für rund 70.000 Euro mitkaufen sollten und wollten, wurden nicht verwirklicht.

Die Bauherren sind enttäuscht, fühlen sich getäuscht, vom Erschließungsträger unzureichend informiert und von der Stadt allein gelassen. „Verwaltung und Politik können sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Eineinhalb Jahre müssen ja wohl reichen, um das Konzept zu realisieren“, sagt Birgit Meyfarth, 36, die mit ihrer Familie zu den fünf Pionieren zählt, die ihren Teil zur Energiewende beitragen wollen. Insgesamt sollen 27 Häuser auf dem Gelände in Glashütte gebaut werden.

Wer ein Grundstück kauft, muss das Solarpaket abnehmen: 25 Quadratmeter Fotovoltaik-Module auf dem Dach, eine Speicher-Batterie, Smarthome, das „intelligente Haus“, das den Stromverbrauch optimal steuert, Smartgrid, das „intelligente Netz“, das den Stromtausch der Dorfbewohner untereinander steuert, eine Fernwärmeübergabestation, ein Elektroauto und eine rückladefähige Auto-Ladebox.

Dieses Ensemble ist Voraussetzung dafür, dass die Bewohner den Solarstrom selbst verbrauchen, dass überschüssige Energie in der Haus- oder in der Autobatterie gespeichert, aber auch vom Fahrzeug ans Haus wieder zurückgegeben werden kann. Weiteres Ziel ist der Stromtausch untereinander: Fehlt dem einen Energie, weil Geschirrspüler, Waschmaschine, Mikrowelle, TV und PC laufen, schließt der Versorgungsring zwischen den Nachbarn automatisch die Lücke, indem gespeicherter Strom aus den anderen Häusern nachgeschossen wird. Falls die Sonne doch mal schwächelt und alle Speicher leer sind, liefert ein Blockheizkraftwerk die elektrische Energie.

Diese ehrgeizigen Ziele haben Politiker und Stadtverwaltung in einem Konzept festgeschrieben. Soweit zur Theorie, doch der Alltag hat die Bauherren hart in der Realität landen lassen. Zwar seien die Fotovoltaik-Anlagen, die Übergabestationen für die Fernwärme und ein Großteil der Hausbatterien installiert, aber: „Sonst hat eigentlich so gut wie nichts geklappt“, sagt Björn Bergerhausen, 35, der wie seine Mitstreiter die schlechte Kommunikation mit der Erschließungsfirma Schilling kritisiert. Die sei nach dem Motto „Verschleiern und Verzögern“ gelaufen. Schriftliches gab es kaum, bis heute wissen die Bewohner nicht, wie viel sie für Strom und Fernwärme bezahlen.

Als der Elektriker wissen wollte, wo er welche Leitungen verlegen soll, sei der Bauherr immer wieder vertröstet worden. Schließlich habe der Elektriker nicht mehr warten können, der Auftraggeber habe sich für die sichere Variante, die ganz normale Standardverkabelung, entschieden. „Damit war Smarthome tot“, sagt Bergerhausen.

Smartgrid werde von Schilling „aus wirtschaftlichen Gründen“ nicht, wie im Konzept festgelegt, realisiert, rückladefähige Ladeboxen für Elektroautos Batterien gebe es noch gar nicht auf dem deutschen Markt. Damit sei auch eine ganz wesentliche, weil innovative Säule des Autarkie-Modells hinfällig: das Elektroauto. Und tatsächlich steht noch kein einziger Nissan Leaf auf dem Gelände. „Das Konzept macht aber nur Sinn, wenn alle Komponenten verwirklicht werden. Lässt man etwas weg oder tauscht es gegen eine Alternative, funktioniert das Gesamtpaket nicht mehr, vergleichbar einem Auto mit drei Rädern“, sagt Bergerhausen.

Fast schwerer als der materielle wirkt der ideelle Schaden. Den einst überzeugten Befürwortern des innovativen Wohnens ist die Lust an der Energiewende vergangen: „Wenn wir das geahnt hätten, hätte keiner von uns eins dieser Grundstücke gekauft“, sagt Christian Fischer, 34, desillusioniert.

„Ich kann den Frust der Betroffenen gut verstehen“, sagt Norderstedts Baudezernent Thomas Bosse. Mit dem Solardorf hätten alle Beteiligten Neuland betreten, das sei mit Stress verbunden und erfordere Geduld, weil Fehler unvermeidbar seien. Dennoch ist Bosse überzeugt, dass die Ziele spätestens in zwei bis drei Jahren erreicht werden, wenn das Baugebiet besiedelt ist. „Schilling muss und wird liefern“, sagt der Dezernent. Allerdings gesteht Bosse zu, dass die Kommunikation verbessert werden müsse. Bleibt das ehrgeizige Projekt unvollendet, würde der Stadt erheblicher Imageschaden entstehen.

„Auch für uns ist das Solardorf ein neues Tätigkeitsfeld, auch wir mussten Lehrgeld bezahlen“, sagt Juniorchef Tobias Schilling. So habe sich die Firma, die das Projekt technisch koordinieren und überwachen sollte, als unfähig herausgestellt. Das mache Schilling nun selbst. Auch das Unternehmen, das die rückladefähigen Ladeboxen für die Elektroautos liefern wollte, habe kurzfristig einen Rückzieher gemacht.

Dieses Zwei-Wege-System gebe es zwar schon in Japan, in Deutschland stecke die Technologie aber noch in den Anfängen. „Daher haben wir den ganzen Komplex Elektro-Mobilität zurückgestellt“, sagt Schilling. Smarthome sei nicht wesentlich für das Gesamtprojekt, Schilling habe den Bauherren den Einbau freigestellt. Der Stromtausch zwischen den Häusern laufe schon und werde optimiert, spätestens Ende des Jahres werden die Bewohner Abrechnungen bekommen. „Der Start war etwas holprig, aber wir werden das Projekt zu einem vorzeigbaren Ende bringen“, sagt der Juniorchef.

Die Bauherren teilen den Optimismus nicht. Der Baufortschritt lasse eine Realisierung des ursprünglichen Konzeptes ohne erhebliche Investitionen nicht mehr zu. Es werde Zeit, dass sich die Politik in Norderstedt der Probleme annimmt – die Grünen und Die Linke haben Anfragen an die Stadt zum Thema gestellt.

www.ossenmoorring.de