Die Erinnerungswerkstatt hat ein Buch veröffentlicht. 19 Autoren erzählen, was sie zwischen 1933 und 1955 erlebt haben

Norderstedt. „Die schweren Eisenbahngeschütze schossen donnernd, als unser Zug – der letzte – Thorn verließ. Es war bitterkalt – und unser Zug bestand aus Viehwaggons. Es wurde auf den Zug geschossen, wir legten uns bangen Herzens übereinander.“ Oder: „Eine Horde wilder Männer stürmte in das Haus. Wir wurden zur Seite geschoben wie tote Gegenstände. Ich hörte sie schreien „Frau komm!“ Ich wusste damals noch nicht, was es bedeutet, dass meine Mutter und meine Schwestern Irma und Ulla, 14 und 16 Jahre alt, in den fürchterlichen Stunden, die dann kamen, ständig aus dem Zimmer herausgeholt wurden.“ Das sind Zitate aus einem Buch, das die Erinnerungswerkstatt Norderstedt veröffentlicht hat.

Traumatisierende Erlebnisse, aber auch unbeschwerte und fröhliche Jahre

Ein Buch, in dem sich 19 Männer und Frauen an ihre Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1955 erinnern – eine Zeit, aus der die Schrecken von Nazi-Terror und Krieg bis heute traumatisch nachwirken. Aber auch Jahre, die leicht und unbeschwert verflogen sind. So lautet der Titel denn auch „Dennoch haben wir gelacht . . .“ Es sind persönliche Eindrücke, die Geschichte anschaulich und authentisch werden lassen und die vielen Facetten der Zeit rund um den Zweiten Weltkrieg widerspiegeln.

Eigentlich ist ein Buch nicht das Mittel der Aufklärung. „Unser Medium ist das Internet“, sagt Hartmut Kennhöfer, Mitinitiator der Erinnerungswerkstatt Norderstedt, die seit zehn Jahren gegen das Vergessen kämpft. Die Mitglieder wollen gerade junge Leute erreichen, ihnen vor Augen führen, wie das Leben ablief, als es noch keine Smartphones, keine PCs und keine voll gepackte Freizeit gab. Als kein Geld da war, um angesagte Klamotten in Boutiquen oder per Internet zu kaufen, die Kinderzimmer noch nicht mit Spielzeug voll gestopft waren, als fliegende Händler durch die Dörfer zogen, Kinder auf Bäume kletterten, mit wild gewordenen Schwänen kämpften, aber auch schon früh mit anpacken mussten.

„Natürlich mussten wir hart arbeiten, aber das war selbstverständlich, und wir selbst haben das gar nicht so gesehen“, sagt Kennhöfer, der gleich hinter der Grenze zu Hamburg am Kayhuder Weg aufgewachsen ist und sich noch an den „Lumpensammler“ erinnert. Der kam mit seinem dreirädrigen Lieferwagen in den 50er-Jahren, um Lumpen, Flaschen, Eisen und Papier abzuholen. „Bezahlt wurde mit ein paar Pfennigen, Luftballons aus einer Tüte, die nicht sehr appetitlich aussah, Wundertüten oder Affenbrot aus einem schmierigen Sack. So nannten wir Kinder die brettharten, braunen und rund 20 Zentimeter langen Früchte des Affenbrotbaums“, schreibt der 65-Jährige in einer seiner Geschichten.

Er stelle immer wieder fest, dass das, was man in der Kindheit und Jugend erlebt, lebenslang prägt. Kennhöfer mag bis heute keine Karpfen, fast spürt er noch den „modderigen und ekligen“ Geschmack des Fisches, der ihn aus trüben Glupschaugen und mit offenem Maul angeblickt habe, als er als Drittklässler mit der Familie zum Karpfenfest nach Reinfeld fuhr. Günther Matiba beschreibt, dass sich eine Mundharmonika durchaus auch als Wurfgeschoss und Schlagwerkzeug eignete. Ida Slomianka erinnert sich an die Tanzstunden in der Küche, der eine Bruder brachte ihr die Tanzschritte bei, der andere blies auf einem mit Seidenpapier belegten Kamm „Was machst Du mit den Knie lieber Hans . . .“ und andere Hits von damals.

Inge Hellwege, Garstedter Urgestein, beschreibt, wie sie mit ihrer Familie Seife gekocht hat, denn es gab keine vernünftige, nur Schwemmseife, die höchstens einen Tag hielt oder kratzende Sandseife. Im Sommer 1943 rief ihr Onkel aus Hamburg an. Er hatte im Osterbek-Kanal in Barmbek Fett aus der nahen Margarinefabrik entdeckt. Das sei sehr schmutzig, aber es eigne sich trotzdem. Die Garstedter fuhren 15 Kilometer mit dem Rad und entdeckten die schwarze Brühe, die sie mit Harken aus dem Wasser angelten und in Eimer und Säcke füllten. Auf dem Rückweg schimpften die Passanten hinter ihnen her, weil es so bestialisch stank.

Der Vorrat an selbst hergestellter „Friedensseife“ reichte sehr lange

Der „Schmierkram“ kam in einen Kessel und wurde mit viel Wasser erhitzt. Das Fett trennte sich vom Rest. Ihre Mutter gab beim Seifekochen noch eine kleine Flasche Köllnisch Wasser dazu von wegen „dem Odeur“. Der Gestank verflog, und die Familie hatte einen Vorrat an „Friedensseife“, der noch weit bis nach dem Krieg reichte.

„Schreiben ist auch Therapie“, sagt Kennhöfer. So mancher Autor scheibt sich eine Last von der Seele, Erlebnisse, die tief vergraben wurden, weil sie das Überleben und ein halbwegs normales Leben gefährdet hätten. Lotte Heidenreich ist so eine, die im Schreiben abgeworfen hat, was sie zentnerschwer jahrzehntelang mit sich herum geschleppt hatte: Die Geschichte eines kleinen Mädchens, das Vertreibungen und Entbehrungen, Vergewaltigungen, schlimme Krankheiten und Tod am eigenen Leib erfahren hat. Im Alter hat sie sich von einem Trauma befreit, ohne Rachegefühle, ohne Ressentiments. Nach all den furchtbaren Erlebnisse, denen sie als einzige aus ihrer Familie entkommen ist, lautet ihre Botschaft: Möge die Einsicht derer, die die Geschicke der Völker zu entscheiden haben, verhüten, dass kommende Generationen ein ähnliches Schicksal erdulden müssen.